© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/98 22. Mai 1998

 
 
Pankraz, A. Comte und die kargen Lorbeeren der Positiven

Pankraz wundert sich, wie wenig die wissenschaftliche Welt vom zweihundertsten Geburtstag Auguste Comtes Kenntnis nimmt, der in dieses Jahr fällt. Comte gilt doch – und zwar zu Recht – als der Erfinder des neuzeitlichen ("positiven") Denkens, dem alle huldigen. Aber es gibt keine Gedenkkongresse, kaum Gedenkartikel. In Le Monde hat nichts gestanden und nichts im Archiv für Philosophie. Hat eigentlich die FAZ etwas gebracht?

Die französische Ignoranz erklärt sich vielleicht aus der allgemeinen Revolutionsbesoffenheit, die seit dem Wahlsieg der Sozialisten wieder einmal in Paris herrscht. Denn Comte war, im Gegensatz dazu, sein Lebtag ein leidenschaftlicher und notorischer Feind der Revolution und auch der vorangegangenen Aufklärung.

In der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts sah er nichts als zuchtloses Gequatsche, individualistische Spinnerei und egozentrische Anmaßung, gegen die es nur ein einziges Mittel gäbe: die "Macht des Wissens", wie er formulierte, wobei die Betonung keineswegs nur auf dem Wissen lag, sondern mindestens ebenso sehr auf der Macht. Zitat: "Die positive Wissenschaft soll an die Stelle treten, die die Theologie im Mittelalter innegehabt hat. Die positive Wissenschaft ist die neue Menschheitsreligion, und es kann ihr gegenüber ebenso wenig Glaubensfreiheit geben wie seinerzeit gegen die ehrwürdige Religion des Mittelalters."

Aber wohlgemerkt, die positive Religion sollte keine Philosophie "über" den Wissenschaften sein, sondern lediglich ein Ordnungssystem "zwischen" den Disziplinen, eine "pouvoir spirituel", für die er freilich, ganz im Stile moderner Wissenschaftsverwaltung, ein großes Verwaltungszentrum eingerichtet sehen wollte, ein "abendländisches Komitee", mit ihm, Auguste Comte selber, als "directeur" an der Spitze.

Es sei völlig sinnlos, lehrte der Mann, im Stile der traditionellen Philosophie von "ersten Ursachen" oder "letzten Zwecken" der Dinge zu reden. Generelle Orientierungsdisziplin könne nur die Mathematik sein. Allein mathematische Axiomatik sei dem Aufbau einer "Wissenschaftshierarchie" zugrundezulegen, die vom "Einfachen" zum "Komplizierten" fortschreiten müsse. Der Mathematik folge die Kosmologie, dann käme die Physik, dann die Chemie, dann die Biologie, zuletzt die "Soziologie", ein Terminus, der eigens von Comte geschaffen wurde, um alle geistestheoretische Spinnerei bereits semantisch auszuschalten.

Das Feld der menschlichen Beziehungen ist nach Comte genauso quantifizierbar wie der Sternenhimmel oder die Anordnung der Atome. Das Individuum selbst kümmert ihn nicht, ja, er leugnet es sogar als selbstreflexives Subjekt. Der menschliche Geist, sagt er, kann zwar alle Vorgänge außerhalb seiner selbst beobachten, aber sich selbst kann er nicht beobachten, allenfalls seine "Leidenschaften", weil die angeblich in anderen Organen als dem beobachtenden Denken ihren Sitz haben. Beim Denken selbst müßte das beobachtende Organ ja identisch sein mit dem beobachteten: wie könne da Beobachtung möglich sein?

Statt Psychologie lehrte Comte also sein berühmtes "Dreistadiengesetz", demzufolge alles Wissen immer drei Zustände durchmache, bis es zur Reife komme: erstens den theologischen oder fiktiven Zustand, zweitens den metaphysischen oder abstrakten, drittens den wissenschaftlichen oder positiven. Dementsprechend entwickle sich die Menschheit notwendig aus der theologischen über die metaphysische direkt in die positive Phase hinein.

In der theologischen Phase glauben alle an übernatürliche Kräfte, in der zweiten an "Wesen hinter den Dingen". In der positiven Phase aber erfassen wir "endlich" das Einzelne im Zusammenhang der tatsächlich nachweisbaren, nämlich mathematischen Bedingungen. In der ersten Phase herrschen die Priester und die Krieger, in der zweiten die Beamten, in der dritten die "Industrialisten", wobei Comte (wie schon sein Lehrer Saint-Simon) nicht extra unterschied zwischen Fabrikanten, Ingenieuren und Arbeitern.

 

Das "Dreistadiengesetz" gilt nicht nur welthistorisch, sondern auch individualpsychologisch. Als Kinder sind wir Theologen, als Jünglinge Metaphysiker, als Männer und Frauen Physiker. Und es gilt innerhalb jeder einzelnen Wissenschaft noch einmal für sich genommen: Alle Wissenschaften sind am Anfang theologisch, in der Mitte metaphysisch-spekulativ, am Ende positiv.

Im dritten, dem positiven, Stadium erkennt der Mensch, daß es völlig fruchtlos ist, zu absoluter, sei es theologischer, sei es metaphysischer Erkenntnis gelangen zu wollen. Er gibt es auf, Ursprung und Zweck des Weltalls oder das hinter den Erscheinungen liegende "wahre Wesen" aller Dinge zu ermitteln, sondern versucht statt dessen, durch Beobachtung und den Gebrauch von Mathematik und Logik die Gesetze der Ähnlichkeit und der Aufeinanderfolge in den gegebenen Tatsachen zu erkennen.

Das Höchste, was erreichbar sei, sagt Comte, sei ein Generalgesetz, aus dem alle Erscheinungen widerspruchslos erklärt werden können, eine Art Allgemeine Feldtheorie, nach der ja die Physiker noch heute ebenso intensiv wie vergeblich suchen.

War es diese Vergeblichkeit der Suche nach der Allgemeinen Feldtheorie, die Comte am Ende seines (nicht langen) Lebens verzweifeln ließ? Oder kam ihm die Liebe dazwischen, die Liebe zu Madame de Vaux, die ihm der Tod so bald entriß? Er drehte jedenfalls durch, landete zeitweise im Irrenhaus, ernannte sich schließlich zum Priester eines Höchsten Wesens, eines "Grand Etre", dem er Blumen und Weihrauch streute.

Wahrscheinlich ist es dieser Ausgang, der die Feiern zum Andenken des großen Mannes nicht in Fahrt kommen läßt. Auch für die lautesten Positivisten gibt es ein "Respice finem!"


 
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