© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    22/98 22. Mai 1998

 
 
Michael Ruetz: 1968 - Ein Zeitalter wird besichtigt
Getriebene mit Träumen
von Werner Olles

Noch heute nach dreißig Jahren streiten sich sogenannte "Experten" um die Frage, ob denn nun die Brandanschläge auf zwei Frankfurter Kaufhäuser am 3. April 1968, die gewaltsamen Protestaktionen gegen die Verlagshäuser der Springer-Presse nach dem Attentat auf den Berliner Studentenführer Rudi Dutschke am Karfreitag 1968 oder die berühmt-berüchtigte "Schlacht am Tegeler Weg" nach einer Solidaritätskundgebung für den APO-Rechtsanwalt Horst Mahler am 4. November des gleichen Jahres als Geburtswehen des deutschen Terrorismus bezeichnet werden können.

Ob man es nun wahrhaben will oder nicht, es war in der Tat nur noch ein kleiner Schritt von der gemeingefährlichen Brandstiftung durch Andreas Baader, seiner Freundin Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein bis zum Schwertwort der späteren Baader-Befreierin Ulrike Meinhof: "Natürlich ist der Kerl in der Uniform ein Schwein, und natürlich kann geschossen werden!"

Die Osterunruhen in den Universitätsstädten der Bundesrepublik speisten sich aus der Empörung über das Revolverattentat des 21jährigen Hilfsarbeiters Josef Bachmann gegen die SDS-Leitfigur Dutschke, der durch drei Kopfschüsse lebensgefährlich verletzt wurde und 1979 an den Spätfolgen auch letztlich verstarb.

Die Studenten warfen den Zeitungen des Pressemoguls Axel Springer eine systematische Verhetzung vor allem der Berliner Öffentlichkeit vor, übersahen dabei jedoch, daß im gewaltsam geteilten Berlin die provozierende Parteinahme für kommunistische Führer geradezu als Schock erlebt werden mußte. Die Schlacht am Tegeler Weg bedeutete das Ende der künstlichen Unterscheidung zwischen der Gewalt gegen Sachen und der gegen Menschen.

Stratege dieses politischen Kalküls war der SDS-Funktionär und spätere KPD/AO-Gründer Christian Semler. Erstmals gesellten sich hier zu den militanten Studenten junge Arbeiter und bildeten gemeinsam die "Lederjacken-Fraktion". Spätestens nach dem Erscheinen dieses militant-kraftstrotzenden Flügels – der zum Vorbild der späteren K-Gruppen werden sollte – hätte der SDS sich jedoch auflösen müssen. Anders als die Rote Armee Fraktion (RAF), deren hohles Pathos von Anfang an aus den Lebenslügen der 68er resultierte, begriffen die SDS-Führer recht schnell, daß es in der BRD weder eine revolutionäre Situation noch ein revolutionäres Umfeld oder eine solche Basis gab, in der man "wie Fische im Wasser" hätte schwimmen können. Wenigstens das hatten sie von Mao-Tse-Tung gelernt, während ihre mißratenen Kinder als selbsternannte "Rotarmisten" schon Mord auf Mord häuften.

Der intellektuelle Gewinn, den die SDS-Funktionäre jedoch aus ihrem revolutionstheoretisch geschulten Verstand zogen, war indes eher gering. Denn anstatt zu verstehen, daß es eben nicht reichte, mittels ins Zwanghafte gesteigerten Revolutionsmythen eine einzige große Gesinnungsparty zu veranstalten, die irgendwann am Intellektuellen-Stammtisch der Gute-Menschen-Disco versickert, ließ man nach wie vor Massenmörder wie Lenin, Stalin, Mao und Enver Hodscha hochleben und pflegte seinen Modernitätsekel "mit einer elitären Arroganz, die auch von ganz rechtsaußen kommen könnte" (Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt).

Michael Ruetz läßt in seinem Bildband das Jahr 1968 noch einmal lebendig werden. Selbst Mitglied des Berliner SDS war er bei allen wichtigen Veranstaltungen und Demonstrationen zugegen. Seine brillanten Bilder, Momentaufnahmen einer "Jeunesse dorée" (Gerd Koenen) bedürfen kaum einer Kommentierung. Ruetz hat sie alle aufs Bild gebannt: Die Kommunarden Teufel, Langhans und Kunzelmann bei ihren Happenings auf dem Kudamm, die SDS-Funktionäre Dutschke, Gaston Salvatore und Günter Amendt während des legendären Vietnam-Kongresses in der TU unter dem Banner des Vietcong mit der Aufschrift "Die Pflicht jedes Revolutionärs ist es, die Revolution zumachen!", die Asta-Vorsitzende Sigrid Fronius ganz bieder im karierten Rock, die von einem Steinhagel getroffenen flüchtenden und verletzten Polizisten am Tegeler Weg, rechte Gegendemonstranten beim Verbrennen von roten Fahnen, die Bundeskanzler Kiesinger (CDU) ohrfeigende Beate Klarsfeld und als besonderes Bonbon den ehemaligen – inzwischen verstorbenen – NPD-Vorsitzenden Adolf von Thadden, in einer Diskussionsrunde dem wild gestikulierenden Erich Kuby lauschend. Letzteres trug sich zu am 24. Februar in der Technischen Universität in Berlin-Charlottenburg.

Die Texte zu den 323 Photographien des Buches stammen von Rolf Sachse, Henryk M. Broder und Ruetz selbst. Daß hier Klartext gesprochen wird und keine Weihestunde für SDS und APO aufgelegt wird – immerhin gab es ja nicht nur "Fachidioten der Politik und Wissenschaft", wie die radikalen Studenten behaupteten, sondern auch "Fachidioten des Protestes" (Ralf Dahrendorf) –, beweist Ruetz damit, daß er auch die zahlreichen Gegendemonstrationen und staatstragenden Kundgebungen der Berliner Bevölkerung zeigt. Und gerade an diesen Bildern wird deutlich, auf wieviel Unverständnis, ja Empörung der zu fast stalinistischen Dimensionen ausgeuferte Haß der 68er stieß. Dies verstärkte sich später zu einer regelrechten Pogromstimmung, als der mittlerweile offen terroristisch agierende Zweig der APO seine schwerkriminellen Handlungen zunehmend gegen die alliierten "Besatzer" richtete, die gerade in der "Frontstadt" West-Berlin trotz des Vietnamkrieges von der großen Mehrheit immer noch als Schutzmacht gegen den Kommunismus angesehen wurden.

Zu dieser Zeit bezog der "radical chic" der 68er bereits einen beträchtlichen Teil seiner politischen Legitimation aus Aktionen, deren allzu schroffe totalitaristische Tendenzen sie eher als Getriebene erscheinen ließen. Durch Welten getrennt von denjenigen, für deren Würde und Rechte sie zu kämpfen vorgaben, besaß kaum eine ihrer Handlungen auch nur den Hauch von Wirklichkeitssinn.

Auf diesem wackligen Fundament versuchten die intellektuellen Führer des SDS viel zu lange eine Analyse der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und des Imperialismus zu leisten, anstatt ihr eigenes Handeln zu analysieren. Zwecklos erschien auch die Berufung auf ihre hochschulpolitischen Väter. Horkheimer hatte sich, ergriffen vom Pessimismus Schopenhauers, konservativ und religiös geworden, in sein Tessiner Exil zurückgezogen und warnte von dort aus vor dem "Umschlag linksradikaler Opposition in terroristischen Totalitarismus". Adorno starb, tief getroffen von den studentischen Anfeindungen, die er als Rückfall ins Unaufgeklärte empfand, und den Angriffen der Öffentlichkeit, die ihn der Urheberschaft an der Gewalt bezichtigte. Herbert Marcuse träumte im sonnigen Kalifornien von seiner Jugend in einem kaiserlich-preußischen Garderegiment und aß lieber Königsberger Klopse zum Fernsehkrimi als die Schriften seiner zahlreichen Jünger zu lesen.

Am Ende politischer Theorien müssen Kalküle stehen. Doch zu einer radikalen Neu-Positionierung war der SDS schon nicht mehr fähig. So blieb nur noch die Selbstauflösung, während die RAF vom kriminellen Untergrund verschlungen wurde und die 68er Bewegung sich in allerlei antiautoritäre Klein- und Kleinstgrüppchen zerfaserte. Die 68er von damals sind heute Beamte, Lehrer, Fernsehredakteure, Oberbürgermeister, Bundestagsabgeordnete und vielleicht bald Minister.

Heutzutage darf Politik wieder Spaß machen, auch das ist ein Resultat des Sieges des hedonistischen Flügels der Bewegung. "Die Türaufstoßer des modernen Kapitalismus" (Bernd Rabehl) kompensieren dreißig Jahre danach ihr politisches Scheitern mit dem sterilen Bewußtsein ihrer altlinken Überzeugungen und den Erinnerungen an ein Jahr der Brüche und Katastrophen, die nur in ihren Träumen glänzende Siege und heroische Niederlagen waren.

 

 

Michael Ruetz: 1968 – Ein Zeitalter wird besichtigt. 323 Photographien mit Texten von Rolf Sachse, Henryk M. Broder und Michael Ruetz, Verlag Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1997, 387 Seiten, geb., 55 Mark


 
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