© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/98 29. Mai 1998

 
 
Tagungsbericht: Welche Tugenden halten die offene Gesellschaft zusammen?
Vom Wandel der Werte
von Peter Krause

Der Ort, das Evangelische Augustinerkloster zu Erfurt, war von der Konrad-Adenauer-Stiftung mit Bedacht gewählt. Martin Luther war hier von 1501 bis 1505 Student der artes liberales, danach bis 1511 Augustinereremit. Hier entstanden die ersten Gedanken einer Reformation der katholischen Lehre, einer Reform, die auch ein der gesellschaftlichen Entwicklung angemessenes, die neue Ökonomie begünstigendes (und von Calvin theologisch stark aufgewertetes) Arbeitsethos enthielt. Die frühbürgerlichen Kardinaltugenden Fleiß, Sparsamkeit, Ordnung, Zucht bildeten den Gegensatz zum aristokratischen Geist der Repräsentation. Sie prägten die moderne Welt. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus: "Unser Leben währet 70 Jahr…, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen", lautet Luthers eigenwillige Übersetzung des Psalm 90 (Vers 10).

Die Erfurter Tagung war überschrieben: "Werte im pluralistischen Staat: Was hält die offene Gesellschaft zusammen?" Professor Hermann Lübbe, Philosoph an der Universität Zürich, legte in der gut besuchten Augustinerkirche den Grund. Er fragte nach "Modernität und Moral?", argumentierte betont praxisnah. Der Wertewandel vollziehe sich beschleunigt. Was aber heißt "Wertewandel", silent revolution? Lübbe verwies darauf, daß diejenigen Tugenden in ihrer Bedeutung schnell abnähmen, die der bürgerlichen Arbeitswelt entsprungen seien. Dagegen gewännen Werte von "sublimerer Qualität" an Bedeutung: Kreativität, Sensibilität. Was bringen uns diese Werte? Zunächst zeigen sie an, daß der Mensch sich nunmehr beinahe vollständig selbst in den Mittelpunkt gestellt habe. Die Verwirklichung persönlichen Glücks sei zur entscheidenden Kategorie geworden, jener Grundwert also, der seit alters philosophische Skepsis, konservative Klage und religiösen Widerstand hervorgerufen hat. Lübbe aber wollte in dem Wertewandel keine Dekadenz sehen, sondern eine notwendige Veränderung.

"Je freier wir leben, um so nötiger wird die Moral"

 

Er stellte die These auf: "Je moderner und freier wir leben, um so nötiger wird die Moral." Was ist mit diesem Paradoxon gemeint? Lübbe verwies darauf, daß Freiheit einen Spielraum habe, der sie zugleich einenge: bestimmt nämlich sei sie durch Zeit und Geld. Die Freiheit des Einzelnen wäre, legt man diese Faktoren zugrunde, stark gestiegen, da im Durchschnitt dem Menschen in den modernen Industriestaaten immer mehr Freizeit zur Verfügung stehe: während in den zwanziger Jahren ein deutscher Rentner durchschnittlich auf fast 100.000 Arbeitsstunden zurückblicken konnte, hat ein heute in den Altersruhestand entlassener Mann etwa 65.000 Arbeitsstunden vorzuweisen; die Berufsarbeitszeit betrage in Westeuropa nur noch acht Prozent der Lebenszeit. Die Zeit also, in der der Mensch "selbstbestimmt" lebt, dehnt sich aus. Das bedeutet Freiheit, das bedeutet aber ebenso die Notwendigkeit, immer mehr Dinge eigenständig zu erledigen. Es besteht für den spätmodernen Menschen mithin der Zwang zur Selbstbestimmung.

Die Zunahme an freier Zeit, an selbstbestimmtem Leben schlage sich in den neuen Werten nieder. Die Entwicklung weg von den Werten der bürgerlichen und proletarischen Arbeitswelt sei von der Gesellschaft angenommen worden. Lübbe teilte die verbreitete Diagnose ‘Moralverfall’ nicht: Es veränderten sich die Standards für Werte, man müsse nüchtern das produktive Element der "selbstbestimmten Tugenden" erkennen. Gleichwohl wollte er die Schattenseiten nicht verharmlost sehen und verwies darauf, daß die zeitgemäßen Tugenden von ungleich verteilten Faktoren abhängig seien: Nicht alle Menschen kämen mit der Selbstbestimmung zurecht. Nicht die vor Jahren befürchtete gleichförmige Massengesellschaft stehe bevor, sondern die Gefahr liege darin, daß die Fähigkeiten verschiedener Personengruppen, mit der Individualisierung umzugehen, immer stärker differieren. Die Gesellschaft drifte kulturell auseinander. Der Anteil der Menschen werde wachsen, die den modernen Ansprüchen nicht gerecht würden.

Matthias Rößler, Staatsminister für Kultus des Freistaates Sachsen, sprach über "Wertevermittlung und modernes Leben". Er ließ sich zunächst breit und wenig originell über die Idee Europa aus: die Werte seien das vereinigende Band Europas. Er beklagte zwar eine öffentliche Zurückhaltung, die Wertedebatte zu führen, er bedauerte den Schwund von Tugenden wie Ehrlichkeit und Loyalität, nannte das Ergebnis der Sachsen-Anhalt-Wahl eine Quittung für die Scheu auch der CDU, sich der politischen Diskussion um Werte zu stellen. Doch lieferte gerade sein Vortrag einen Beleg für diese Zurückhaltung. Daß auch die offene Gesellschaft einer Wertebasis bedarf, daß Werte den Rahmen setzen, in denen sich Freiheit bewähren kann, das ist bekannt. Rößler gab sich up to date: der Wertekanon entstehe im "gesellschaftlichen Diskurs". Da er aber ein Unions-Politiker ist, vergaß er nicht, die christliche Wertebasis –, und da er ein gebildeter Mensch ist, die antike Tradition zu erwähnen. Im Verhältnis von Diskurs und Tradition aber liegt gerade ein Problem. Rößler wollte das nicht sehen; er konnte sich so leichthin seinem Thema zuwenden: der Wertevermittlung. Diese dürfe nicht an die Schule delegiert werden, sondern bleibe primär Aufgabe der Familie.

Bernhard Vogel, Ministerpräsident des Freistaates Thüringen und dritter Redner des Abends, machte es sich in der Gretchenfrage nicht viel schwerer. "Grundwerte und politische Realität" hieß sein Thema. Auch ihm sind gewisse Werte, wiewohl sie zugleich erst "im gesellschaftlichen Diskurs entstehen", schlicht gegeben. Der CDU-Politiker begrüßte die Modernisierung als "Freiheit". Nun ist ein Wesenszug der Moderne eine Liberalisierung des Daseins und eine Rationalisierung des Denkens. Daß vielleicht ein Konflikt zwischen einerseits Grundwerten, die sich dem "gesellschaftlichen Diskurs" entziehen, ihm sogar vorausgehen und als Vorurteil das Werturteil bestimmen, und andererseits dieser Modernisierung besteht, wäre ein spannendes Thema, zumindest für einen konservativen Politiker.

Die modernen Grundwerte sind rein politisch definiert

 

Bernhard Vogel stellte sich dem Problem so wenig wie Rößler. Er sprach über Werte, zeigte Verständnis für die Sorge, die sich viele Menschen über die politische Kultur in unserem Land machen, erkannte ein Mangel an Sinngebung. Der sich vollziehende Wertewandel sei allerdings kein Verlust; die Rangfolge werde nur neu bestimmt und zeitige viele positive Resultate: etwa die Sorge um die Natur. Die Grundwerte Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit sah der Ministerpräsident nicht in Gefahr, zumindest dann nicht, wenn die Politik diese verteidige. Er forderte von den Politikern Führung, auch ideelle Führung. Politik solle der Meinung der Mehrheit nicht immer hinterherlaufen, sondern von der "als richtig erkannten Sache" zu überzeugen versuchen.

All das sind Thesen, die auf jeder Wahlkampfveranstaltung ihren Platz haben. Dort geht es eben um Meinung und politische Standortbestimmung. Auf einer Tagung hätte man sich mehr Bedenklichkeit gewünscht, hätte gern etwas über das Fundament der Ethik erfahren. Wenn Bernhard Vogel fordert, man solle nicht dem Zeitgeist hinterherlaufen, dann scheint er die Wertefrage dem beschworenen Diskurs teilweise entziehen zu wollen. Nach welchen Grundwerten soll die Politik führen? Die beiden Unionspolitiker offenbarten ein Dilemma. Sie anerkennen einerseits die Faktizität des Wandels, loben die Modernisierung des Moralischen und eine Diskursethik, versuchen andererseits, eine Basis unfraglicherGrundwerte zu verteidigen, auf die zu "besinnen" sich lohne. Um jedoch nicht altbacken zu wirken, werden diese Werte rein politisch-demokratisch definiert: Es seien jene Werte, so Vogel apodiktisch, die das Grundgesetz vorgebe.

Die Grundwertediskussion wird so bloß an das positive Recht gebunden, genaugenommen an den politischen status quo ante. Die gesellschaftliche Dimension, die Dynamik des Wertewandels, wird so eigentlich unterlaufen. Eine Teilung zwischen politisch-juristisch fixierten Grundwerten und sich schnell verändernden Wertvorstellungen, gar zwischen Sekundär- und Primärtugenden ist so einfach nicht, wie etwa die Debatte um die Legalität der Abtreibung offenbart hat. Werte kann man politisch nicht setzen. (Wenngleich man sich politisch zu ihnen bekennen muß.)

Worin wurzeln die Werte? Gerade die offene Gesellschaft stellt vor das Problem der Begründung, daß in einem pluralistischen Gemeinwesen, dessen Tabuvorstellungen sich schnell wandeln, Werte im Spannungsfeld der Bewährung stehen. Das ist ein Gemeinplatz. Aber sind Grundwerte nur rational, im Diskurs zu begründen? Imanuel Kant hatte am Beginn der Moderne die Sittlichkeit ausdrücklich der reinen Vernunft entzogen und einem metaphysischen Normativ unterstellt.

Was hält die offene Gesellschaft zusammen? Das Unbefriedigende der bloß postulierenden politischen Referate, die Unsicherheit im Wertewandel, wurde in der anregenden Diskussion spürbar. Wenn Werte einer Dimension entzogen sind, die undiskutabel ist, dann stehen sie offensichtlich dem menschlichen Belieben und der Machbarkeit zur Verfügung. (Lübbe zitierte als Beleg für diesen Geist Lenins idealisches Wort an seine Geheimpolizei: "Uns ist alles erlaubt!") Der Thüringische Landesbischof Roland Hoffmann brachte dagegen unverzagt die Differenz von Moral und Ethik ins Spiel: Während Moral auf Anerzogenheit beruhe, stamme ethisches Handeln aus traditionellem und christlichem Verständnis, sei durch die religio vorgegeben, also der Verhandelbarkeit entzogen.

Die gemeinschaftsbildenden Werte gehen zurück, die Tugenden der Selbstverwirklichkeit dominieren immer mehr. Was bedeutet das für die Gesellschaft der Zukunft? Nun läßt sich eine ethische Vormoderne nicht herbeiwünschen. Woraus ergeben sich aber spätmoderne Grundwerte: aus anthropologischen Konstanten, aus einer kulturellen, geschichtlichen Verfaßtheit oder wirklich nur aus politischen Willensentscheidungen, mithin dem Diskurs?

Es ist nicht nur das Problem eines Konservatismus, es scheint, als käme eine jede Theorie und damit weltanschauliche Regulation gegenüber der Faktizität der gesellschaftlichen Individualisierung mittlerweile zu spät.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen