© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    23/98 29. Mai 1998

 
 
Kolumne
Selbstaufgabe
von Klaus Motschmann

Zur Erklärung mancher gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in unserem Volke sollte man wieder einmal George Orwells vor fünfzig Jahren verfaßten Roman "1984" lesen – zum Beispiel im Blick auf die Dauerkritik der intellektualisierten Linken an den "primitiven", "platten", "populistischen", "einfachen" oder mit welchen Adjektiven sonst noch qualifizierten "Denkmustern" der Rechten. In einer entscheidenden Szene des Romans, einem Verhör im "Wahrheitsministerium", geht es um eine derart "einfache" Parole: "Freiheit ist die Freiheit sagen zu dürfen, daß zwei und zwei gleich vier ist."

Es gibt ungezählte Definitionen von Freiheit (bzw. anderen politischen Schlüsselbegriffen); allein diese bringt das Wesentliche für jedermann verständlich auf den Punkt. Und eben deshalb ist sie ein schweres "Gedankenverbrechen". Es besteht darin, daß einzelne oder kleine Gruppen immer noch und immer wieder den "Mut haben, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen", wie Immanuel Kant das Wesen aufgeklärten Denkens definiert hat.

Aufgeklärtes Denken steht also in grundsätzlichem Widerspruch zu den Absolutheitsansprüchgen aller ideologischen Parteien und den daraus resultierenden Ansprüchen an die Unterwerfung unter die jeweilige Generallinie der Partei für jeden einzelnen, und sei es in einer so "einfachen" Antwort auf die Frage nach dem Resultat von zwei mal zwei oder – etwas allgemeiner – nach persönlichen Erinnerungen an frühere Aussagen der Partei. Deshalb heißt es in dem erwähnten Verhör: "Was immer die Partei für Wahrheit hält, ist Wahrheit. Es ist unmöglich, die Wirklichkeit anders als durch die Augen der Partei zu sehen. Diese Tatsache müssen Sie wieder lernen. Dazu bedarf es eines Aktes der Selbstaufgabe, eines Willensaufwandes." Selbstaufgabe als Ziel politischer "Bildung"!

An erschütternden Beispielen für den unerschütterlichen Glauben an die Partei hat es zu keiner Zeit in der Geschichte des Sozialismus gefehlt. Dabei ist nicht nur an die hymnischen Lobgesänge namhafter Schriftsteller auf die Partei zu denken, zum Beispiel Bert Brechts "Lob der Partei", sondern an die freiwillige Selbstaufgabe des eigenen Denkens durch pawlowreflexartige Anpassung an die jeweils neue "Generallinie" buchstäblich von einem Tag auf den anderen. Unzählige historische wie aktuelle Beispiele veranschaulichen die Kollektivierung des Denkens, die in rapidem Ausmaß die Maßstäbe unserer veröffentlichten Meinung diktiert. Quousque tandem? Wie lange noch?


 
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