© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    24/98 05. Juni 1998

 
 
Historische Wahrheit per Gesetz
von Frederick E. Petermann

Wenn die Geschichte des 20. Jahrhunderts die Deutschen etwas lehrt, dann doch wohl dies: Weltbilder und politisch dogmatische Haltungen verfallen umso schneller und ihr Verfall geht mit umso größeren Katastrophen einher, je einheitlicher und radikaler ihnen zuvor gehuldigt wurde. Und es scheint besonders im Charakter der Deutschen zu liegen, ihre politischen Dogmen gründlich und präzise durch- und umzusetzen. Hüten sollten sie sich also vor allem, die Wahrheit in Form von Dogmen vorschreiben zu wollen.

Genau dies aber geschieht im § 130 Strafgesetzbuch (StGB), der eigens zur Vorschrift einer geschichtlichen Wahrheit im Herbst 1994 verschärft wurde. Das haben wohl auch Wolfgang Schäuble und Ignatz Bubis erkannt, die in einem Gespräch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. April 1996 den Bestand des Gesetzes in Frage stellten. Schäuble räumte ein, daß "es unter juristischen Gesichtspunkten eigentlich Unfug ist, Meinungsäußerungen zu verbieten".

Justizminister Edzard Schmidt-Jortzig pflichtet der Kritik an dieser Variante des "deutschen Sonderwegs" in der Zeitschrift Mut bei: Wie mit "extremistischer Propaganda" umzugehen sei, "wird von Engländern und Deutschen – ganz zu schweigen von den Amerikanern und Deutschen – nun einmal unterschiedlich beurteilt. Deshalb stößt die Strafverfolgung, auch soweit sie nach unseren Gesetzen möglich ist, an ihre Grenzen, denn in anderen Staaten, auf deren Kooperation wir angewiesen sind, haben das Recht auf Meinungsfreiheit und auf freie Rede einen viel absoluteren Stellenwert." Der Justizminister erläutert an gleicher Stelle die Grenzen staatlicher Regelungsmöglichkeiten: "Geschichtlich wie theoretisch ist er (der Staat, F.E.P.) ohnehin nur ein Zweckgebilde, das sich als offenbar beste Organisationsform zur gemeinschaftlichen Interessenwahrnehmung der in ihm sich zusammenschließenden Menschen, Bürger, herauskristallisiert hat."

Bereits vorher hatte der Justizminister im Fernsehsender 3-Sat seine Bedenken auf den Punkt gebracht: "Wir werden – und das finde ich einigermaßen bedrückend – binnen kurzem von den USA wegen unserer Bestrafung der Auschwitzlüge eine förmliche Rüge über die Vereinten Nationen bekommen, weil wir auf diese Art und Weise Meinungsfreiheit einschränken."

Bliebe zu fragen, ob denn der Rassismus durch diese Form der Negation des Rassismus überhaupt wirkungsvoll bekämpft werden kann oder ob eine schlichte Verneinung solcher Phänomäne qua Gesetz nicht genau das Gegenteil bewirkt.

Der norwegische Philosoph Jon Elster hat in seiner Arbeit über ibaneske Ideologie dargelegt, daß es zwei verschiedene Formen der Verneinung gibt, die aktive und die passive. Die aktive Verneinung der Liebe ist der Haß, die passive die Gleichgültigkeit, die aktive Verneinung der Verpflichtung ist das Verbot, die passive die Nichtverpflichtung. Der Atheist verneint die Religion aktiv, der Agnostiker verneint sie in passiver Form.

Elster veranschaulicht die praktischen Konsequenzen, die sich aus dem Unterschied zwischen den Verneinungsformen ergeben: "Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um ein allgegenwärtiges Phänomen. So kann auch der militante Atheismus nicht ohne Gläubige auskommen, die er doch befeindet, genauso wie eine bestimmte Art von Kommunismus in enger Symbiose mit dem Privateigentum lebt: ebenso läßt sich der Antikommunist zitieren, dessen Welt zusammenbräche, wenn es ihm eines Tages gelänge, den "falschen Götzen" zu stürzen. Überdenkt man den Fall des Atheismus, so wird man gewahr, daß er zwei unterschiedliche Paradoxa zu erkennen gibt: einerseits die erwähnte Schwierigkeit, dem für die primitive Mentalität zu spitzfindigen Unterschied zwischen Atheismus und Agnostizismus Geltung zu verschaffen, andererseits den negativen Glauben des Atheisten, der ebenso mit Gott verbunden bleibt wie der Gläubige (oder sogar noch mehr). Diese beiden Paradoxa hängen in der Tat zusammen, denn die Ohnmacht des Atheismus rührt ja gerade daher, daß er das Unmögliche will: durch aktive Negation einen Zustand passiver Negation herbeiführen."

Der Schweizer Jurist und Altertumsforscher J. J. Bachofen (1839–1887) bringt diese Zusammenhänge in eine noch griffigere, ganzheitliche Form, wenn er sagt: "In extremer Form durchgesetzt, führt jedes Prinzip zum Sieg seines Gegenteils; sogar Mißbrauch wird zum Förderer des Fortschritts; größter Triumph ist der Beginn der Niederlage."

Die Allgegenwart des Phänomens können wir hier in den USA täglich beobachten. Die multikulturelle Gesellschaft der USA besteht aus vielen kleinen Sozietäten mit der weitverbreiteten Tendenz, sich voneinander abzugrenzen. Offene Feindschaft vermeiden heißt, jeder Sozietät soviel Freiheit wie möglich zu geben, auch die Freiheit zur Abgrenzung. Die totale Freiheit ist nicht umsetzbar. Selbst deutschem Perfektionismus kann das nicht gelingen. Es trotzdem zu versuchen, wird Unfrieden säen.

Das Problem Mitteleuropas – und ganz besonders der Deutschen – ist die Vermeidung eines neuen Antisemitismus. Was zur Zeit getan wird, ist in der Begrifflichkeit Elsters und Bachofens eine radikale, eine übersteigert aktive Verneinung des Antisemitismus. Die Erkenntnisse der Philosophie belegen, daß das auf ein Wollen des Unmöglichen hinausläuft. Die Maßnahmen werden das Gegenteil des offiziell Beabsichtigten bewirken.

Man kann wohl kaum davon ausgehen, daß die Mehrheit der verantwortlichen Politiker in der deutschen Bundesregierung und der Justiz die Zeit gehabt hat, sich mit den Ergebnissen Elsters und Bachofens auseinanderzusetzen. Vielleicht würden sie sonst eine andere Rechtspolitik verfolgen. Was sie tun, läuft jedoch de facto auf ein nachhaltiges Schüren von Rassenhaß hinaus. Eine Politik aber, die Rassismus dämpfen will und ihm, wo er sich schon nicht ganz vermeiden läßt, eine unbedeutende Nebenrolle im politischen Geschehen zuweisen will, muß auf übersteigerte Gegenmaßnahmen verzichten. Die Anwendung unverhältnismäßiger Mittel bewirkt dialektisch das Gegenteil.

Vielleicht beruht die Hysterie, mit der die bundesdeutsche Legislative und Judikative vorgeht, nur auf Ungeschick. Deutsche Politiker haben schon so oft in diesem Jahrhundert versagt, daß es niemanden überraschen würde, wenn sie auch in dieser Sache nur wenig Weitblick an den Tag legten. Die Europäer können das, weil zu nahe am Geschehen, oft nicht so deutlich sehen.

Ob absichtlich oder nicht, ob bewußt oder unbewußt begangen, die derzeitigen Maßnahmen in der Bundesrepublik bergen die schreckliche Konsequenz der Volksverhetzung und des Rassenhasses. Die Gefahr liegt weniger in der offen erkennbaren Hetze, sie liegt viel stärker in der verdeckten Aktion. Solche Kräfte, einmal geweckt, lassen sich dann nur noch schwer kontrollieren. Aus der Zustimmung, die weite Kreise der deutschen Bevölkerung und der politischen Führung den wissenschaftlich kaum begründbaren Thesen Daniel Goldhagens in seinem Buch "Hitlers willige Vollstrecker" zollen, läßt sich darauf schließen, daß die Deutschen sich selbst für anfällig zu Rückfällen halten.

Besonnenheit im Umgang mit diesen Fragen und Wahrung der demokratischen Prinzipien in einer offenen, von Gesinnungsjustiz unbeeinträchtigten Diskussion wäre sicher eine gute Voraussetzung für eine friedliche Zukunft. Wenn sie neue Katastrophen vermeiden wollen, müssen die politisch Verantwortlichen in den deutschen Parlamenten und Behörden zu solcher Besonnenheit auf dem Boden uneingeschränkter Meinungsfreiheit finden. Sie müssen ganz besonders in diesem Punkt den Menschenrechten, die sie auf dem Papier anerkannt haben, auch in ihrem Lande Geltung verschaffen. Dabei ist dem Recht auf Meinungsfreiheit in der Bundesrepublik der gleiche Stellenwert einzuräumen wie in anderen demokratischen Ländern. Interessengegensätze und Meinungsverschiedenheiten sollten mit Worten und nicht mit Waffen ausgetragen werden. Das freie Wort möge die Waffen überflüssig machen. Diese Chance hat es nur, wenn es erlaubt ist.


 
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