© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/98 12. Juni 1998

 
 
Fußball-WM in Frankreich: Deutschlands Chancen beim Spiel aller Spiele
Die große Entscheidung
von Achim T. Volz

Es könnte die Weltmeisterschaft der Platzverweise werden, denn die neue Schiedsrichteranweisung bestraft "Grätschen von hinten" mit dem sofortigen Ausschluß des Grätschers. Womöglich wird es aus deutscher Sicht die Weltmeisterschaft der Olivers: Oliver Bierhoff holt sich, wie schon in der italienischen Liga, die Krone des treffsichersten Torschützen, und Oliver Kahn von den Münchner Bayern wird zum besten Toreverhinderer zwischen Pfosten gekürt. Oliver I müßte dazu mit der deutschen Elf möglichst lange im Turnier bleiben, und Oliver II müßte möglichst früh das Glück haben, daß sein Erzrivale Andy Köpcke Verletzungspech hätte.

Vielleicht aber kommt alles ganz anders und wir behalten von den 16. Welttitelkämpfen nichts in Erinnerung als den Namen des siegreichen Kickerlandes und die allabendliche WM-Glosse von Harald Schmidt. Denn der TV-Night-Talker mit eher unsportlichem Habitus klärt uns Tag für Tag über die wahren Hinter- bzw. Abgründe der Wettspiele auf. Einen großen Teil seiner Schärfe wird er auf Kosten jener Veteranen machen, an denen die deutsche Nationalmannschaft heuer überreich ist. Unser halbhundertjähriger "Bundesberti", der diplomierter Berufsfußballtrainer Hans-Hubert Vogts, mag seine Auswahlspieler wie Otto Rehagel, der Senior der Erstligatrainer: gut abgehangen. Da kann selbst ein Enddreißiger wie Lothar Matthäus in die Equipe der deutschen Elitekicker rutschen. Berti betätigt sich als Wahrer konservativer Werte: Alter ist keine Schande und Jugend kein Verdienst. Und eh zählt nichts als "die Leistung". Die zu erbringen sind nicht bloß die deutschen Spieler wild, doch relaxed entschlossen; mit ihnen konkurrieren erstmals sage und schreibe 31 Mannschaften aus aller Herren Länder.

Der Franzose an sich liebt es pompös. Und so hat er sich die größte, längste, teuerste, meist übertragene Weltmeisterschaft aller Zeiten auf den Leib schneidern lassen. Couturiers waren das Exekutivkomitee der FIFA, des Weltverbandes, und seine französische Sektion mit Michel Platini als Generalmanager, dem gewiß besten Fußballer, den Gallien hervorgebracht hat. Allerdings ist es wenig wahrscheinlich, daß die leistungssportlich eher phlegmatisch veranlagte Grande Nation den WM-Titel gewinnt. Ein großes Geschäft ist es allemal, mit dem Gewinn von Ansehen verbunden und amtierenden Politikern bzw. ihren Parteien Chancen zu prestigeträchtiger Selbstdarstellung bietend. In Frankreich gehen die Uhren anders: Zwar ist man Gastgeber der globalen "Football-Community", doch weiß man diese Gelegenheit ganz und gar französisch zu nutzen: pour la gloire wurden Arenen geschaffen, deren exquisite Ästhetik allenfalls noch von Italienern erreichbar wäre.

Eine logistische Herkules-Arbeit für Asterix und seine Erben: 32 Teams tragen in zehn Städten 64 Spiele aus; nördlich von Paris werden 34 Unparteiische gegen Bestechlichkeit kaserniert, schon anderntags werden Videos der Entscheidungen vor den versammelten Referees ausgewertet. Vor der WM im Jahr 2000 werden die Ausrichter Japan und Südkorea womöglich ein Diplom für die Parkwächter vorschreiben.

Unverkennbar ist das Mondial erst in zweiter Linie das Turnier der weltbesten Fußballer. Längst dominiert die Vermarktung, die Selbstinszenierung der Stars, das Schaulaufen für die Verträge, die Profitmaximierung und massendemokratische Instrumentalisierung. Dem Volk bleiben Brot und Spiele. Noch nie stand dieser Herrschaftszynismus in höherer Geltung. In rein fußballsportlichen Kategorien denken nur noch Traditionalisten wie Berti Vogts. Da ist selbst sein Männerfreund Kohl näher am Fortschritt dran. Berti will es Guildo nachmachen: wenn Klinsmann, Matthäus & Co. als siebente von 32 Startern zurückkämen und ebenso enthusiastisch begrüßt würden wie der Schlagerbarde nach seiner Grand-Prix-Plazierung, so Vogts, dann wäre die WM auf der Haben-Seite des deutschen Fußballs zu buchen. Wenn Berti sich da mal bloß nicht täuscht! Da bringt der Tip auf Brasilien die niedrigste Wettquote, doch der ideelle deutsche Gesamtfan stellt gewaltige Ansprüche: der Titel ist möglich, die Finalteilnahme wahrscheinlich, das Halbfinale Pflicht. Und Berti Vogts kann Geschichte schreiben: Wenn er den Titel holt und sein Kanzlerfreund in Paris die Hände der Sieger schütteln darf, dürfte Vogts der Union die Bundestagswahl gewonnen haben.


 
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