© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    25/98 12. Juni 1998

 
 
Norditalien: Venetien ist die neue Hochburg der Lega Nord
Der Löwe von San Marco
von Raimund Brugger

Seit dem 1992 begonnenen Aufstieg der sezessionistischen Lega Nord, die innerhalb der EU einen souveränen Staat "Padanien" errichten will, war die Lombardei zunächst das Zentrum der Unabhängigkeitstendenzen. Ihren Anfang hatten die norditalienischen Autonomiebestrebungen jedoch bereits in den 70er Jahren in Venetien genommen. Noch bevor Umberto Bossi 1982 mit drei Gesinnungsfreunden, darunter auch seine heutige Frau, in einer Mailänder Zweizimmerwohnung die Splittergruppe "Lega Lombarda" gründete, bestand im Veneto schon die autonomistische "Liga Veneta", der es 1983 sogar gelang, je einen Abgeordneten in die beiden Häuser des italienischen Parlaments zu entsenden.

Durch die unkonventionelle Art und die kompromißlose Haltung Bossis gegenüber der "römischen Partitokratie" übernahm er bald die Führung und vereinte die verschiedenen autonomistischen Bewegungen in der "Lega Nord". Seit 1996 zeigt sich jedoch, daß die vehementesten Verfechter einer Unabhängigkeit von Rom nicht mehr in den lombardischen, sondern in den venetianischen Provinzen beheimatet sind. Im Gebiet der einst so mächtigen Seerepublik von San Marco erzielte die Lega bei den letzten Parlamentswahlen im April 1996 ihre besten Ergebnisse. Die Unzufriedenheit mit der aktuellen politischen Lage ist, darin sind sich Italiens Meinungsforscher einig, im Nordosten am stärksten. Auch hat sich dort in den vergangenen Jahren ein besonders starkes und für Italien untypisches Landesbewußtsein entwickelt, in dessen Folge die eigene stolze Vergangenheit wiederentdeckt wird und man an die über tausendjährige Tradition und Geschichte der "Serenissima" anzuknüpfen versucht. Die noch vor 30 Jahren ökonomisch schwache Region verzeichnet heute das stärkste Wirtschaftswachstum und die geringste Arbeitslosigkeit in ganz Italien.

Insgesamt erwirtschaftet Norditalien (d. h. die Regionen Piemont, Lombardei, Venetien, Friaul-Julisch Venetien, Trentino-Südtirol, Aosta, Ligurien und Emilia-Romagna) gegenwärtig ganze 60% des italienischen Bruttoinlandsproduktes, Mittelitalien 30% (Toskana, Umbrien, Marken, Latium, Abruzzen, Molise und Sardinien) und Süditalien nur 10 Prozent (Kampanien, Apulien, Basilicata, Kalabrien und Sizilien). Dementsprechend erfolgt ein von Rom diktierter radikaler Finanzausgleich: Von 1.000 Lire, die in Norditalien als Steuern, Abgaben und Gebühren aufgebracht werden, kehren nur 180 Lire wieder aus der Stadt am Tiber zurück, während auf 1.000 in Süditalien erbrachte Lire aus Rom 3.000 Lire gen Süden zurückfließen. Die jüngsten Veröffentlichungen des staatlichen Statistikamtes zur Beschäftigungslage offenbaren das Ausmaß der regionalen Unterschiede besonders eklatant. Italien weist eine Gesamtarbeitslosigkeit von 12,4% und eine Jugendarbeitslosigkeit von 18,7% auf. In Süditalien beträgt die Arbeitslosenrate 22,6%, und die Jugendarbeitslosigkeit erreicht eine schwindelerregende Höhe von 57,4%. Die italienische Staatsverschuldung beträgt 123% des BIP oder in absoluten Zahlen ausgedrückt umgerechnet etwa 2.000 Milliarden DM. Zählt man noch das Finanzloch beim Institut für Sozialfürsorge hinzu, das zentral sämtliche Renten und Pensionen verwaltet, so ergibt sich gar eine Verdreifachung der Schulden auf 6.100 Milliarden DM.

Bossi unterstreicht die EU-Reife "Padaniens", während Rest-Italien als Klotz am Bein prädestiniert sei, der die Anbindung Norditaliens an Kerneuropa gefährde. Dem Süden könne nur durch Sondermaßnahmen geholfen werden, was im Rahmen eines Nord-Staates leichter möglich sei. Gleichzeitig macht der ebenso populistische wie charismatische Bossi Bedenken gegen den Euro geltend und sieht in einer Ausweitung der bereits bestehenden "kleinen" Währungsunion jener Staaten, die die Deutsche Mark als Leitwährung anerkennen, die besssere und vor allem sicherere Alternative.

Mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von Campoformio am 17. Oktober 1797 zwischen dem Haus Österreich und Napoleon Bonaparte wurde die einst so stolze Seerepublik von Venedig mit einem Federstrich von der Landkarte getilgt. Die Habsburger traten die Lombardei an Frankreich ab und erhielten – den Gepflogenheiten der Zeit entsprechend – als "Entschädigung" die oligarchisch regierte Republik Venedig. Nach dem Wiener Kongreß wurde Venetien dann dem Kaiserreich Österreich zugesprochen und bestand als Teil des Königreiches Lombardo-Venetien fort, bis es schließlich 1866 im dritten italienischen Unabhängigkeitskrieg dem 1861 ausgerufenen italienischen Staat einverleibt wurde.

Plädoyer Bossis für die Leitwährung D-Mark

Dieser Zusammenschluß wurde zwar von Teilen des Bürgertums begrüßt, stieß aber schon bald angesichts der Methoden des italienischen Zentralstaates auf zunehmende Ablehnung. Nachdem Italien geschaffen worden war, galt es damals zunächst, auch die Italiener "zu schaffen". Dementsprechend unterdrückten die Mächtigen in Rom rigoros jedwede regionale Besonderheit. Venetianisches Volksbrauchtum stand unter Strafe, so beispielsweise charakteristische Volkstänze sowie der Gebrauch typischer Musikinstrumente, und das Venetianische, das unter anderen historischen Bedingungen anstelle des Florentinischen durchaus italienische Hochsprache hätte werden können, wurde verboten. In der Bevölkerung fand um die Jahrhundertwende folgender Spruch weite Verbreitung: "Unter der Serenissima hatte man zu essen und zu feiern, unter den ‘Austriaci’ hatte man nichts zu feiern, aber zu essen, unter den ‘Talian’ hat man hingegen weder zu essen noch zu feiern."

Die heutige massive Unzufriedenheit und der Wunsch nach Unabhängigkeit von Rom wurden sowohl von den Parteien des regierenden Links- als auch denen des oppositionellen Rechtsbündnisses lange Zeit verkannt. Trotz aller feierlichen Erklärungen zum Föderalismus kam selbst dem von den Mitte-Links-Parteien getragenen Bürgermeisterphilosophen von Venedig, Massimo Cacciari, nicht einmal die Idee, im Jahre 1997 an den Untergang der früheren Seerepublik vor 200 Jahren zu erinnern. – Dies sollten andere tun: Am 9. Mai letzten Jahres besetzten acht Angehörige der "Streitkräfte der Serenissima" den symbolträchtigen Markusturm, das Wahrzeichen Venedigs und ganz Venetiens, und hißten dort die einstige Fahne der Seerepublik, die den Markuslöwen zeigt. Die bewaffnete Aktion, eine Mischung aus Groteske und Symbolik, wurde nach mehreren Stunden durch eine Einheit der Antiterrorabteilung der Carabinieri unblutig beendet.

Die Lega Nord distanzierte sich offiziell, ließ jedoch offen ihre Sympathie für die acht Männer erkennen. Bereits vor der Besetzung hatten diese mehrfach in ganzen Provinzen die Nachrichtensendungen des staatlichen Fernsehens RAI gestört, indem sie ihre Botschaften zur "Befreiung Venetiens" verbreiteten. Die Staatsanwaltschaft leitete sofort ein Verfahren ein, das mehrfach lebenslängliche Haftstrafen hätte bedeuten können. Die Vorwürfe lauteten: "Anschlag auf die Einheit des Staates", "Bildung einer bewaffneten Organisation zum Sturz der staatlichen Ordnung" usw. Die Mitglieder des "Kommandos", einige Handwerker, ein Kaufmann und zwei Studenten, stellten sich jedoch nicht als fanatische Extremisten, sondern als normale Durchschnittsbürger heraus und wurden schnell zu wahren Volkshelden Venetiens. Erst seitdem scheinen die italienischen Parteien die zuvor völlig unterschätzte Mißstimmung im Veneto erkannt zu haben und versuchen, Gegenstrategien zu entwickeln. In diesem Kontext ist es auch zu sehen, daß die Gerichtsbehörden plötzlich Milde walten ließen und die letzten "Kämpfer" der Serenissima am 28. April dieses Jahres das Gefängnis verlassen konnten.

Venedigs Bürgermeister Cacciari, der den Handstreich zuerst mit aller Schärfe verurteilt hatte, fand plötzlich Worte des Verständnisses. Die Mitte-Links-Parteien hoben unter seiner Führung eine eigene autonomistische "Partei des Nordostens" aus der Taufe, die der Lega den Wind aus den Segeln nehmen soll. Die Rechte versucht dasselbe Ziel durch die Gewährung einer Sonderautonomie für das Veneto zu erreichen, wie es sie bereits für die Regionen Trentino-Südtirol, Friaul, Aosta, Sizilien und Sardinien gibt, um vor allem die Wählerschaft der Lega anzusprechen.

Parlamentsmehrheit für Selbstbestimmung Venetiens

Der Regionalregierungspräsident von Venetien, Giancarlo Galan (Forza Italia), brachte im Regionalparlament einen Beschlußantrag zur Selbstbestimmung des Veneto ein, der eine breite Mehrheit fand. Welches Ziel er konkret anstrebt, ist ihm wohl selbst nicht klar. Bossi wertet die Initiative als Versuch, die Regionen "Padaniens" durch das altrömische divide et impera zu spalten.

Am 30. April verabschiedete schließlich der aus beiden Häusern gebildete Parlamentsausschuß zur Reform der italienischen Verfassung mit den Stimmen beider großen Parteienbündnisse und gegen jene der Lega eine föderalistische Umgestaltung Italiens. Nach dem spanischen Modell sollen künftig zehn Kompetenzbereiche dem Zentralstaat vorbehalten bleiben, während alle übrigen Zuständigkeiten an die Regionen übertragen werden können. Diese Maßnahme richtet sich natürlich gezielt an die norditalienischen Regionen, jedoch dürfte der Weg zur Umsetzung noch lang und hürdenreich sein. – Die Zentralregierung handelt ganz deutlich nur angesichts starken Drucks, denn ein föderalistischer Gesinnungswandel der zentralstaatlich geprägten Politikerschicht ist nicht zu erkennen.

Umberto Bossi zeigt sich bisher weder durch die Schachzüge der römischen Parteien noch durch die bereits vor Monaten vom Oberstaatsanwalt von Verona gegen die gesamte Lega-Führung angestrengten Ermittlungen wegen "staatsfeindlicher Aktivitäten" beeindruckt. Nach dem im Dezember 1994 erfolgten Bruch mit Berlusconi und der eigenständigen Kandidatur bei den Parlamentswahlen von 1996 galt die Lega Nord durch das neue Mehrheitswahlrecht, das sie gegenüber den großen Parteienbündnissen benachteiligt, unter Meinungsforschern bereits als Auslaufmodell. Statt dessen erzielte die konsequent nur in Norditalien kandidierende Partei mit landesweit 13% ihr bestes Ergebnis. Damit wurde sie mit rund 30% stärkste Partei des Nordens. Die Auguren sprechen ihr heute rund 10% Stimmenanteil zu und bestätigen, daß die Lega weiterhin als beliebteste Partei Norditaliens zu gelten hat.

Südtirols Alt-Landeshauptmann Silvius Magnago erklärte in einem am 4. Mai in Italiens bedeutendster Tageszeitung Corriere della Sera veröffentlichten Interview, daß das vereinte Europa "nur eine Chance habe, wenn es das Europa der Vaterländer wird – also die Einteilung der Regionen nach Kultur und Sprache. Und dann wäre Tirol wiedervereinigt." Andernfalls laufe es Gefahr, so Magnago, eine zentralistische, von den Banken diktierte Tyrannis zu werden. – Durch die Schaffung eines föderalistischen "Padaniens" würde sich die geopolitische Landkarte nicht nur in bezug auf Tirol, sondern hinsichtlich ganz Europas nachdrücklich verändern, was interessante Perspektiven eröffnen könnte und sich in die Kette der vielen Euregio-Projekte oder die Stärkung der Selbständigkeit Schottlands, Wales und Nordirlands innerhalb Großbritanniens einreihen ließe.


 
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