© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Nationale Identität: Warum wir unserer Vergangenheit nicht entgehen
Der Weg in die Geschichte
von Dieter Stein

Das deutsche Volk ist kein völkerrechtliches Subjekt mehr, es hat keine Regierung, keine Fahne mehr, sein Wohlstand, seine Chancen, seine Ehre, seine Freiheit – alles, alles ist dahin. Es ist in der Welt verrufener, als es Vandalen, Hunnen und Mongolen waren. Es ist ärmer, als es Polen, Jugoslawen, Rumänen waren. Es hat in jeder Hinsicht seine Form und Richtung verloren. Es ist Gegenstand einer geschichtlichen Katastrophe, wie sie furchtbarer, namenloser, grenzenloser noch kein großes Volk betroffen hat; (…) Der Ertrag der ganzen deutschen Geschichte erweist sich als schreckliches Nichts; wo aber das Nichts das letzte Wort ist, da ist das ganze Dasein, das dahin führte, verfehlt." Dies schrieb der deutsche Nationalist und Widerstandskämpfer Ernst Niekisch 1945 in seinem Buch "Deutsche Daseinsverfehlung". Könnten diese Worte 1998 neue Aktualität gewinnen?

Die Visionen des vor der "deutschen Katastrophe" (Friedrich Meinecke) hemmungslos staatsgläubigen preußischen Sozialisten Niekisch waren nach Auschwitz und Dresden dahin und endeten in tiefer Depression. Die DDR wurde zunächst zu seiner neuen politischen Heimat. Sein Bruch mit der SED kam nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953. Dieses heute vergessene Datum weist auf die Selbstbefreiung der Deutschen vom 9. November 1989 und die Neuvereinigung Deutschlands. Warum fällt es dennoch so schwer, der Ereignisse zu gedenken, die uns Deutsche als Geschichts-Nation schicksalhaft betreffen und die uns zum politischen Handeln befähigen?

Der Jahrestag des 17. Juni 1953 ist ein Tag des Gedenkens an deutschen Mut und Freiheitswillen. Wie steht es aber mit der vielbeschworenen Kultur der Erinnerung? Den Vorschlag, den 17. Juni als gesamtdeutschen Nationalfeiertag zu bewahren, hat man verworfen. Selbst auf ein Denkmal kann oder will man sich in Berlin bis heute nicht einigen.

Es ist so: Die Deutschen sahen sich nach 1945 als "von der Geschichte widerlegtes Volk" (Otto Westphal). Angesichts der Zäsur von 1933/45 hat man beiderseits des Eisernen Vorhanges versucht, eine neue, von nationaler Kontinuität losgelöste Identität, neue Geschichtsbilder zu konstruieren. In der DDR mündete dies über den Mythos des Antifaschismus in die Proklamation einer sozialistischen Nation "DDR". Als das nicht ausreichte, bemühte sich in den achtziger Jahren Honecker, von Luther bis Bismarck plötzlich eine positive deutsche Geschichtstradition zu reklamieren. Dies wurde 1989 durch den Sturm auf die Mauer quittiert. Eine selektive Instrumentalisierung "positiver" Geschichte wird von der Geschichte selbst widerlegt.

In Westdeutschland wurde über das Faktum des Unterganges des Dritten Reiches hinaus das Jahr 1945 seit den siebziger Jahren zum Endpunkt der deutschen Geschichte stilisiert. Von Habermas bis Kohl sah man das "Ende der Nationalstaaten" gekommen und die postnationale BRD als Prototyp einer neuen Ära. Doch schon Ende der siebziger Jahre thematisierten "rechte Leute von links" die nationale Frage neu: so beklagt Rudi Dutschke 1977 in das da, daß von der "Wiedergewinnung eines realen Geschichtsbewußtseins der Deutschen" nicht die Rede sein könne.

Trotz 1989 hat sich an der geschichtslosen Geschichtspolitik in Deutschland nichts geändert. Die deutschen Themen – Vertreibung, Bombenkrieg, Teilung, Weltbürgerkrieg der Ideologien – warten aber auf eine Bearbeitung durch Kino, Bildende Kunst und Literatur: "Das ist Stoff für Generationen. (…) Der Stoff vieler Selbstmorde und Schuld und Schändung, Verbrechen und Strafen und Rache und neue Schuld aufladend, Tragödien, die sich der Vernutzungssysteme der Unterhaltungsindustrie und ihrer Konsumtion entziehen." (Hans Jürgen Syberberg). Eine neue, junge Generation von Künstlern, Autoren, Regisseuren muß sich ihrer annehmen.

Die Ereignisse seit 1989 zeigen, daß nationale Zugehörigkeit nicht zu ersetzen ist durch postnationale "Werte". Was aber ist eine Nation? "Eine Nation ist eine große Gemeinschaft, begründet im Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und derjenigen, die man noch zu bringen bereit ist; sie setzt eine gemeinsame Geschichte voraus; (...) die allgemeine Zustimmung, den deutlich ausgedrückten Wunsch, das gemeinsame Leben fortzusetzen." (Ernest Renan). Nationale Realitäten heute zu ignorieren, kann bedeuten, sie später in verschärfter Form durchleben zu müssen.


 
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