© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    26/98 19. Juni 1998

 
 
Erich Maria Remarque: Zum 100. Geburtstag des Bestsellerautors
Im Westen nicht Neues
von Oliver Geldszus

Der Erfolg traf ihn wie aus heiterem Himmel. Wer war er denn schon, dieser Erich Paul Remark? Ein melancholischer Hochstapler aus Niedersachsens schwärzester Provinz, der um 1920 herum als Kriegsversehrter unter dem Namen des Urgroßvaters und in ordensgeschmückter Leutnantsuniform, frisch bezogen vom Militariaversand, durch die Osnabrücker Kleinstadtbohème gestolpert war. Ein unbegabter Volksschullehrer mit Drang zum Höheren, der seinen Spengler gelesen und zwei Romane ausgeschwitzt hatte: einen lebensphilosophisch blasierten über Künstlers Welteinsamkeit und einen neusachlich glatten über Snobs und Automobile, schlecht der erste, schlechter der zweite, kaum gelesen alle beide. Immerhin, seit 1924 in Berlin, hatte Remarque als Journalist Tritt fassen können mit Reklameversen auf Continental-Reifen und Unfallberichten über ihre Folgen, mit ausgedachten Reisebildern und hingeworfenen Sportreportagen, so daß ihm schließlich der Aufstieg zum stellvertretenden Chefredakteur der Scherl-Illustrierten Sport im Bild gelungen war. Die Depressionen hatten gleichsam angehalten, die sollte ein Text bekämpfen, der ursprünglich gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt war. Ende 1928 entschloß Remarque sich dann doch, das Werk in Uniform zu publizieren. Monate später schlug man ihn für den Nobelpreis vor. "Im Westen nichts Neues" wurde eine Sensation, ein deutscher Welterfolg, der den "Werther" in den Schatten stellte.

Das mag auf den ersten Blick überraschen. Der Buchmarkt war ja seit Jahren überschwemmt mit Kriegsliteratur ambitionierter Autoren von John Dos Passos bis hin zu Henri Barbusse. Gerade in Deutschland standen neben den semidokumentarischen Selbstrechtfertigungen verbitterter Generalstäbler und den zornigen Suaden nicht minder verbitterter Freikorpskämpfer anspruchsvolle Versuche, die kolossale Neuartigkeit der keineswegs unbeschadet überstandenen Katastrophe zu ergründen: Soeben hatte Arnold Zweig mit dem Roman "Der Streit um den Sergeanten Grischa" seinen Weltkriegszyklus eröffnet, waren Ludwig Renns "Krieg" und Adam Scharrers "Vaterlandslose Gesellen" erschienen. Wie kam es dann, daß abgebrühte Zyniker des Weimarer Literaturbetriebs über Remarques Text in heilloses Gestammel verfielen, daß Bernhard Kellermann die "Mitternachtsglocken" läuten hörte, daß Carl Zuckmayer die Toten marschieren sah und Oskar Maurus Fontana, der kaltschnäuzige Fontana, eine Rezension verfaßte, die eigentlich keine mehr war: "Mehr als einmal kann man nicht weiterlesen, muß aufstehen, durch die Stube rennen, um nicht von seiner Verzweiflung, seinem Jammer erdrückt zu werden…"?

Remarque meinte einführend, sein Buch solle weder ein Bekenntnis noch eine Anklage sein. Man darf ihm das glauben, er hat auf den Vorwurf der Unsachlichkeit wie auch auf Versuche politischer Vereinnahmung stets mit ungespieltem Erschrecken reagiert. Lesbar ist es dennoch als beides, als Bekenntnis, und als Anklage auch. Denn im danse macabre des Stellungskrieges, der die Gruppe um den Kriegsfreiweilligen Paul Bäumer Mann um Mann reduziert, spiegelt sich der Abgang einer Generation in den Tod und in die Illusionslosigkeit. Und der Tod ist das Schlimmste nicht! Das einsame Verbluten im Niemandsland zwischen den Gräben, die Deformation des Nietzsche-Kenners zu einem amorphen Klumpen aus Blut und Fleisch und Knochensplittern, das letzte hysterische Aufbäumen des gewesenen Idealisten im katholischen Lazarett, all dies schildert Remarque in naturalistischer Drastik, doch auch mit dem Achselzucken des hartgesottenen Landsers, der inzwischen weiß, worauf er sich eingelassen hat. Schwerer wiegt, daß die Fiktion vom Krieg als Bruder des agonalen Wettkampfs mit einem Mal ins Leere läuft. "Gegen wen, gegen wen?" Die fortwährende Bitte um einen sichtbaren Feind wird von anrückenden Tanks, von heraufziehenden Giftgaswolken verschluckt. Aber auch das ist noch nicht das Schlimmste.

Als in einer ruhigen Minute im Graben die Frage aufkommt, was man eigentlich tun solle, wenn plötzlich Frieden wäre, macht sich Ratlosigkeit breit. Was hat man denn erlebt vorher? Die Borniertheit wilhelminischer Elternhäuser, sadistischer Lateinlehrer, und, wenn es hochkam, den verheißungsvollen Augenaufschlag einer süßen Nietzsche-Kennerin. Anschlußfähig ist das alles längst nicht mehr. Auf seinen Fronturlauben fühlt Bäumer sich unwohl und isoliert, und als er endlich fällt, zeigt sein Gesicht "einen so gefaßten Ausdruck, als wäre er beinahe zufrieden damit, daß es so gekommen war." Schärfer läßt sich ein Bekenntnis, eine Anklage nicht formulieren. Remarque sagt sehr oft "wir". Man hat sich einbezogen gefühlt. Weltweit.

Der Vergleich liegt nahe mit einem, der in ähnlicher Situation genausooft "ich" gesagt hat. Ernst Jüngers bedeutender Kriegstext "In Stahlgewittern", ein knappes Jahrzehnt früher erschienen, ähnelt mehr noch als Remarques Epos einem autobiographisch-dokumentarischen Bericht. Das ist er aber nur zum Teil. Jüngers Werk ist hochartifiziell; in der Monotonie der Abgangsbilanzen reproduziert sich die Monotonie der Stellungskämpfe so gut wie – spiegelverkehrt – der wirkliche Kriegsverlauf im Aufstieg seines Protagonisten, der nach der letzten verpfuschten Großoffensive den Orden Pour le mérite empfängt. Wie Altmeister Goethe in seiner "Campagne in Frankreich 1792", erweist sich Jünger bei aller Detailgenauigkeit als Meister des Fortlassens. Das Demütigende der Befehlsstruktur, der Erdenrest, zu tragen peinlich, so etwas paßt nicht zum Bild des aristokratischen Sturmtruppführers und erscheint höchstens am Rande. Bei Jünger ist auf der ersten Seite von einem parkumschlossenen Herrensitz die Rede. Bei Remarque von einem Kessel Bohnensuppe, dicht gefolgt vom Offiziersbordell und vollgeschissenen Latrinen: C’est la guerre, günstigstenfalls.

Der schwermütig-behagliche Nihilismus, den Remarques abgebrühte Muschkoten hin und wieder ausrülpsen, ist ganz das Gegenteil jenes heroischen, den Jünger vertritt. Den er vertritt, ohne ihn hier wirklich durchzuhalten: Erstaunlich normenkonform wirkt der Nonkonformismus auf einmal, wenn er lehrbuchtauglich daherprimanert über die Schönheiten deutscher Landschaften, für die zu kämpfen es sich lohne, wenn er, innerlich räsonnierend, die unsinnigen Anordnungen vorgesetzter Stäbe durchsetzt. Jünger gelingt es nicht, seinem Helden eine ungebrochene Perspektive unterzumogeln.
(Fortsetzung von Seite 11) Aber gelingt es denn Remarque? Der Aufbau seines Buches ist grobschlächtig, er folgt dem Singsang "Zehn kleine Negerlein". Doch ist es gerade der Zusammenhalt dieser so heterogenen Gruppe, der es erschwert, "Im Westen nichts Neues" allzu flott unter "Antikriegsliteratur" zu rubrizieren. "Ein kleiner Soldat in der Frühe – aber neben mir, gebeugt und eckig, geht Kat, mein Kamerad. Die Umrisse der Baracke kommen in der Dämmerung auf uns zu wie ein schwarzer, guter Schlaf." Schreibt so ein Pazifist? Wer je auch nur ein Manöver, ein Feldlager erlebt hat, der weiß, daß es solche Empfindungen gibt, daß sie ehrlich und tief sind und manchmal unvergeßlich – wer nicht, wird sie verspotten oder bezetern.

Es gehört zu den Paradoxien des Ersten Weltkriegs, daß die Depersonalisierung des einzelnen Kämpfers, sein endgültiges Verschwinden im "Menschenmaterial" die Sensibilität der Anonymisierten füreinander weckte und ein Kameradschaftserlebnis heraufbeschwor, das es im Frieden nicht gibt, weil es im Frieden nicht nötig ist, das es aber auch im Krieg vorher nicht gegeben hat. Bauer, Student, Fabrikarbeiter: Man rückte dicht zusammen aus Angst vor dem Tank, vor der Giftgaswolke, gemeinsam ratlos angesichts jener Erscheinung, für die wenig später die Wendung "sinnloser Tod" aufkommen sollte, als ob ein sinnvoller möglich wäre. Remarque zeigt, wo sie ihre Wurzeln hat. Halb unwillkürlich wollte er den Krieg inkriminieren, so wie ihm Jünger höchst willkürlich einen Sinn abzutrotzen gedachte. Beiden war ihre Aufrichtigkeit im Wege. Am Ende überwand das Phänomen die Absicht der Autoren. Aber sie haben sich ihm gestellt, mit beeindruckenden Resultaten.

Danach wurde Remarque wieder das, was er eigentlich war: ein gehobener Unterhaltungsschriftsteller. Im Stil späterer Hollywood-Regisseure schickte er seinem Welterfolg noch ein paar Fortsetzungen nach. Später dann, im amerikanischen Exil, lieferte er sein verkäufliches Soll an antifaschistischer Erbauungsliteratur. Diese Bücher mögen ehrenwert sein, nennenswert sind sie nicht. Als es anstand, die westdeutsche Nachkriegsentwicklung zu kritisieren, kritisierte er die westdeutsche Nachkriegsentwicklung. Er starb am 25. September 1970 in Locarno. Sein Vermächtnis heißt: "Im Westen nichts Neues".


 
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