© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Beschämender Jahrestag: Bosnische Lehren und die Kosovo-Krise
Das Menetekel Srebrenica
von Frank Philip

Die Handlungen der maßgeblichen westlichen Politiker und die öffentliche Wahrnehmung des sich täglich weiter zuspitzenden Kosovo-Konflikts sind untrennbar verbunden mit dem Menetekel des Bosnien-Krieges. Gerade in diesen Wochen, da sich das UNO-Debakel in Srebrenica zum dritten Mal jährt, sind die damaligen Negativ-Erfahrungen wieder sehr präsent und schlagen in tagespolitischer Hinsicht zugunsten der Kosovo-Albaner zu Buche. Man kann nur hoffen, daß diesmal frühzeitig entschieden interveniert wird und so Massenmorde und großangelegte "ethnische Säuberungen" verhindert werden können. In der NATO wird eingedenk der Erfahrungen in Bosnien sogar die Verletzung völkerrechtlicher Normen in Gestalt der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien ins Kalkül gezogen. Serbenfreundliche Rücksichtnahmen, wie sie zumindest in der Anfangsphase des Bosnien-Konfliktes eine verhängnisvolle Rolle gespielt hatten, sind unter den führenden EU-Staaten und erst recht in den USA kaum mehr auszumachen. Die Ende letzter Woche bzw. am Montag erfolgte offizielle Anerkennung der "Befreiungsarmee" (UCK) der Kosovo-Albaner als politischer Gesprächspartner – und damit die indirekte Aufwertung der Untergrundkämpfer als legitime militärische Antwort auf die serbische Unterdrückung – zuerst durch die Vereinigten Staaten und dann durch die EU ist ein eindeutiges Signal. Aus Diplomatenkreisen verlautete, daß es Pläne für einen protektorats-ähnlichen Status des Kosovo gebe. Der Begriff "Protektorat" wird dabei tunlichst vermieden – sicherlich auch deshalb, weil er ungute Erinnerungen an die UNO-"Schutzzonen" in Bosnien weckt.

"Ab heute stehen Sie unter dem Schutz der Vereinten Nationen", verkündete Anfang März 1993 der General Morillon vom Balkon des ehemaligen Postamtes der Stadt Srebrenica. Die umstehenden Männer, Frauen und Kinder, alles Flüchtlinge aus den Orten der Umgebung, jubelten. Zu jener Zeit hielten sich über 60.000 Menschen in der winzigen Enklave auf, in der sie sich bei ihrem Rückzug vor den anrückenden serbischen Truppen gesammelt hatten.

Vor dem Krieg zählte der idyllische Bergort etwa 9.000 Einwohner, davon drei Viertel Muslime. Die Häuser liegen dicht an dicht gedrängt in einem schmalen Tal, am Fuße steiler Berghänge. In den umliegenden Bauxit- und Zinkminen und einigen Fabriken fanden die Menschen Arbeit und erfreuten sich eines für kommunistische Verhältnisse recht ansehnlichen Wohlstands. Ein beschauliches, friedliches Plätzchen.

Im Juni 1990 fanden in Slowenien und Kroatien freie Wahlen statt, und ein Jahr später erklärten beide Parlamente ihre Unabhängigkeit. Daraufhin besetzte die serbisch dominierte jugoslawische Volksarmee Teile Kroatiens. Im April 1992 stimmte dann auch in Bosnien-Herzegowina eine Mehrheit der Bosniaken und Kroaten für die Loslösung von Belgrad. Kurz darauf begannen paramilitärische nationalistische Verbände aus Serbien in dem Land eine großangelegte Offensive. Systematische Vertreibungen der angestammten Bevölkerung mit dem Ziel eines "ethnisch reinen" Groß-Serbiens setzten ein. Später schockierten Berichte über KZs und Massenvergewaltigungen muslimischer Mädchen und Frauen die westliche Öffentlichkeit.

Seit Anfang 1993 vermittelte die "Bosnien-Kontaktgruppe" unter Führung des US-Amerikaners Vance und des Briten Lord Owen zwischen den Konfliktparteien. Ihr Friedensplan aus dem Folgejahr sah eine Dreiteilung Bosnien-Herzegowinas vor. 51 Prozent des Territoriums sollte an die nur unter massivem Druck aus Washington zustande gekommene muslimisch-kroatische Föderation fallen, die anderen 49 Prozent wurden der serbischen Verwaltung zugewiesen. Trotz dieser einseitigen Begünstigung der Serben, die vor dem Krieg weniger als ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausgemacht hatten, stimmten Muslime und Kroaten dem Plan zu. Das militärische Ungleichgewicht in Bosnien ließ ihnen kaum eine andere Wahl, da den miserabel ausgerüsteten Muslimen auf serbischer Seite über 100.000 militärisch erfahrene und zum Teil schwerbewaffnete ehemalige Volksarmisten gegenüberstanden. Noch für lange Zeit sollte sich das internationale Waffenembargo als katastrophal für die Muslime erweisen, da es ihnen faktisch die Waffen zur Selbstverteidigung vorenthielt, während die bosnischen Serben – allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz – von Beginn an über ihr "Mutterland" Serbien genügend Nachschub vom Großen Bruder Rußland bekamen. Karadzic und Milosevic lehnten auch vor diesem Hintergrund den Vorschlag der Kontaktgruppe ab, zumal ihre Einheiten ja mehr als 70 Prozent des Landes kontrollierten.

Srebrenica war zusammen mit fünf weiteren Städten in Bosnien von der UNO Mitte 1993 unter öffentlichem Druck als "Schutzzone" deklariert worden. Zunächst wurden kanadische, dann niederländische Blauhelmsoldaten nach Srebrenica entsandt. Die 750 nur leicht bewaffneten Soldaten des "Dutchbat" entwaffneten die muslimischen Verteidiger um den charismatischen jungen Ex-Polizisten Naser Oric und warteten danach als "neutrale Beobachter" zwischen den Parteien das weitere Geschehen ab. Ihre Präsenz sollte die Serben von Kriegshandlungen abschrecken – eine von Anfang an schwierige, wenn nicht unmögliche Aufgabe angesichts der eigenen militärischen Schwäche.

UNO-"Schutzzone" erwies sich als Zone des Todes

Am Donnerstag, dem 6. Juli, registrierten die Blauhelme an der Südspitze der 130 Quadratkilometer großen Schutzzone Truppenbewegungen. Ohne Widerstand traten sie drei strategisch wichtige Punkte auf Verlangen an die Tschetniks ab. Neben regulären Einheiten waren an der Offensive auch Angehörige der Arkan-Miliz aus dem nahen Serbien beteiligt.

Einen Beobachtungsposten nach dem anderen konnten die serbischen Soldaten kampflos übernehmen, da sich alle niederländischen Soldaten bereits nach dem ersten leichten Beschuß zurückgezogen hatten. Es handelte sich dabei um strategisch wichtige Posten, für deren Eroberung Jahre zuvor Hunderte muslimischer Verteidiger ihr Leben gelassen hatten. Am Abend des 9. Juli waren die serbischen Truppen fast ohne Gegenwehr bis an den Rand des völlig überfüllten Flüchtlingslagers vorgedrungen.

In der Stadt herrschten katastrophale Zustände. Die Menschen lebten zum Teil auf der Straße, mehrere Kinder und Alte waren bereits vor Hunger und Erschöpfung gestorben. Doch trotz der verzweifelten Lage wähnten sich die Menschen unter der Flagge der UNO offenbar völlig sicher und glaubten dem Oberstleutnant Karremans, als dieser sagte, daß Luftangriffe angefordert worden seien und man die Offensive bald stoppen würde. – Ein tödlicher Irrtum!

Die Blauhelme beschränkten sich auf kurze Patrouillenfahrten und kämpften im übrigen mehr mit der UNO-Bürokratie und ihrer eigenen Desorganisation als gegen den serbischen Aggressor. Offiziell waren sie ja immer noch "neutrale Beobachter". Am Abend dieses dramatischen Tages kam in Zagreb der Krisenstab der UNO-Mission unter Leitung des Franzosen Janvier zusammen. Die Mehrheit der Offiziere hielt Luftangriffe für unvermeidlich, sollte ein Fall der Enklave noch verhindert werden. Doch der französische General, der seine Sympathien für die serbische Seite nur mühsam verbergen konnte, winkte ab. Wie immer hielt Janvier die eingehenden Berichte für maßlos übertrieben, ja bewertete sie sogar als perfiden Propagandatrick der bosnischen Regierung, die so "Mitleid schinden" wolle. Janvier telefonierte sogleich mit dem Serbengeneral Tolimir und erklärte daraufhin: "Sie haben nicht vor, die Enklave einzunehmen. Wenn doch, werde ich Konsequenzen ziehen…" Abschließend verkündete der Franzose: Er sei sich mit dem UNO-Beauftragten Akashi völlig darin einig, daß es keine Luftangriffe geben solle.

Gleichzeitig beruhigte Oberstleutnant Karremans vom Dutchbat die verängstigten Muslime in der bedrängten "Schutzzone" mit den Worten: "Dieses Gebiet ist morgen eine Todeszone. (…) NATO-Flugzeuge werden alles zerstören, was sich bewegt." – Lag hier nur ein tragisches Mißverständnis vor, oder wurden die muslimischen Männer bewußt getäuscht, um sie davon abzuhalten, die Waffendepots aufzubrechen?

Am Nachmittag des 11. Juli, als die Serben schon fast die ganze Flüchtlingsstadt eingenommen hatten, erschienen dann doch noch zwei F-16-Flugzeuge am Himmel. Nach leichtem Beschuß eines gepanzerten Fahrzeugs drehten die Piloten jedoch schnell wieder ab. Fazit: Viel mehr als zwei Bomben und einige Rauchgranaten haben die Vereinten Nationen zur Verteidigung der 60.000 Flüchtlinge nicht eingesetzt. Am nächsten Tag ging die Nachricht vom Fall der "Schutzzone" durch den Äther. Die Blamage der UNO war perfekt, und das Verhängnis nahm seinen Lauf.

Alle muslimischen Männer zwischen 16 und 70 Jahren wurden von den Serben ausgesondert. Nach Augenzeugenberichten wurden zwischen ein- und zweitausend von ihnen nach einer kurzen "Begrüßung" durch den Oberkriegsverbrecher Mladic in eine nahegelegene Fabrikhalle getrieben und mit Handgranaten niedergemacht. Amerikanische Satellitenfotos zeigten in den folgenden Tagen merkwürdige Grabungsarbeiten und frisch gepflügte Felder – Hinweise auf mögliche Massengräber. In der Nacht zum 13. Juli hatten sich 10.000 bis 15.000 mehrheitlich unbewaffnete muslimische Männer auf die Flucht nach Zentral-Bosnien gemacht. Vor ihnen lagen über 50 Kilometer feindliches Gebiet, und die verminte Berglandschaft stellte für viele der Entkräfteten ein tödliches Hindernis dar. Immer wieder wurde der Flüchtlingszug in der Nacht auf den Hängen unter Beschuß genommen. Ein Todes-Marathon begann, den viele Tausende nicht überlebten.

Größtes Massaker in Europa seit Kriegsende

Die Zahl der Vermißten und Toten aus Srebrenica wird von internationalen Hilfsorganisationen mit 7.079 angegeben. Damit hatte der Fall der "Schutzzone" das größte Massaker auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg zur Folge. Maßgebliche Mitschuld trugen die nicht unerheblichen Sympathien für die Serben in der UNO. Vor allem Franzosen und Briten hielten im Zweifel zu ihrem Ex-Kriegsverbündeten. Zusammen mit Russen und Chinesen hatten sie jahrelang im Sicherheitsrat Maßnahmen gegen den Aggressor verhindert. Es wurde verzögert, abgewiegelt, taktiert. Und Deutschland schwieg zu all dem. Akashi und Boutros-Ghali prägten das Wort vom "Bürgerkrieg", obwohl klar war, daß eine von Milosevic aus Belgrad gesteuerte serbische Armee planmäßig gegen die muslimische und kroatische Bevölkerung vorging, die in freien Wahlen das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung in Anspruch genommen hatte.

Alter Haß der othodoxen Serben auf die zum Islam Konvertierten und der Traum vom Großserbischen Reich waren die Motive eines mit unvorstellbarer Brutalität geführten Krieges. Erst das Eingreifen der USA beendete das Schlachten in dieser Region des Balkans. Wenige gezielte Angriffe der Amerikaner genügten, um die Serben an den Verhandlungstisch zu zwingen. – Deutlicher als im Bosnienkrieg konnten die Europäer ihre außenpolitische Handlungsunfähigkeit nicht demonstrieren!


 
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