© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    28/98 03. Juli 1998

 
 
Halbinsel Wustrow: 1000 Hektar Landschaft werden zur Immobilie
Sansibar im Schlußverkauf
von ThorstenHinz

Das mecklenburgische Ostseebad Rerik und die Halbinsel Wustrow, ein paar Kilometer nordöstlich von Wismar gelegen, sind ein Idyll. Weil Idyllen es an sich haben, aus der Welt zu fallen, finden Sehnsüchte in ihnen kein Ende, sie beginnen hier erst richtig. Als der junge Alfred Andersch 1938 an der Ostseeküste entlangwanderte, empfand er "eine Art magische Qualität" dieser Gegend. Zwanzig Jahre später wurde Rerik Schauplatz seines in der NS-Zeit spielenden Romans "Sansibar oder der letzte Grund", in dem es heißt: "Man mußte Rerik verlassen, erstens, weil in Rerik nichts los war, zweitens, weil Rerik seinen Vater getötet hatte, und drittens, weil es Sansibar gab, Sansibar in der Ferne, Sansibar hinter der offenen See, Sansibar oder den letzten Grund." Sansibar, das ist die Chiffre für Freiheit, für Flucht vor Zwängen und vor Vereinnahmung durch den Staat. In der DDR übrigens wurde das Buch erst 1990, kurz vor Toresschluß, verlegt. Vor allem, weil die meisten Leser "Sansibar" als Synonym für den "Westen" interpretiert hätten, auf den die Tagträume von einem besseren Leben projiziert wurden.

Gründe, von hier wegzugehen, gibt es auch heute. "Los" ist hier nicht viel, und die Söhne stecken gemeinsam mit den Vätern in der Arbeitslosigkeit. Doch wohin? Der 2000-Seelen-Ort Rerik ist vor acht Jahren selber Sansibar geworden, doch spätestens seit der vorigen Woche, als der Haushaltsausschuß des Bundestages einen von der Rostocker Treuhandliegenschaftsgesellschaft (TLG) mit der Kölner Fundus Gruppe eingefädelten Immobiliendeal über die Halbinsel Wustrow mehrheitlich abnickte, kehrt das Gefühl der Fremdbestimung zurück.

Wustrow ist ein reizvoller Landzipfel, der das boddenartige Salzhaff gegen die offene See abschirmt. Es handelt sich um 28 Kilometer Strand und Steilküste, um eine Fläche von fast 1000 Hektar, davon rund 200 Hektar Landschaftsschutz- und 670 Hektar Naturschutzgebiet, die in einer Mischung aus Fürstenabsolutismus und Marktschreierei unter dem Slogan "Catch your island" feilgeboten wurde. Das Ganze kostete schlappe 12,5 Millionen Mark, das sind 1,75 Mark pro Quadratmeter. Versprochen hat Fundus, 300 Millionen Mark auf Wustrow zu investieren, eine Nobel-Ferienanlage mit Golfplatz und Reiterhof. 200 Arbeitsplätze sollen dabei abfallen.

Die Gemeinde hat Widerstand angekündigt und will an ihrem Vorkaufsrecht festhalten, ein Aktionsbündnis hat Strafanzeige gegen das Bundesvermögensamt und die Rostocker TLG gestellt. Nur vordergründig handelt es sich um einen neuen Ost-West-Konflikt.

Wieder fühlt man sich in Rerik unter die Vormundschaft unsichtbarer Seilschaften gestellt – der Fundus-Chef und der Leiter der Rostocker TLG sind Studienfreunde. Die Konzeption der Gemeinde wurde übergangen; sie hatte die Württemberger Archi Nova Gruppe als Investor favorisiert, mit der sie sich bereits über eine umweltfreundliche Modellsiedlung verständigt hatte. Nun wird befürchtet, daß die Tage der wertvollen Naturreservate, die sich im Schatten jahrzehntelanger militärischer Absperrung gebildet hatten, gezählt sind. Um das Gelände von Munition zu räumen, müßte es zwei Meter tief umgegraben werden, von der geschützten Flora und Fauna wäre dann nichts mehr übrig. Fundus versichert, den Naturschutz berücksichtigen zu wollen, aber inzwischen gibt es auch in Mecklenburg-Vorpommern genügend Beispiele, daß erst Fakten – abgeholzte Wälder, zubetonierte Schutzgebiete – geschaffen und dann sanktioniert werden. Vor allem aber fürchten die Einwohner, mit dem Machtantritt von Fundus der Arroganz des großen Geldes ausgeliefert zu sein, zu Fremden im eigenen Haus zu werden. Als abschreckendes Beispiel steht ihnen Heiligendamm, das älteste deutsche Seebad 15 Kilometer weiter östlich, vor Augen. Die unter Denkmalsschutz stehende "Weiße Stadt" wurde samt 560 Hektar ebenfalls der Fundusgruppe zugeschlagen – für 18 Millionen Mark. Doch von den angekündigten Investitionen in Höhe von 600 Millionen Mark ist hier nichts zu sehen. Die Häuser verrotten, Post, Drogerie, Konsum, Gaststätten sind "freigezogen". Allein 1997 haben 40 Mietparteien den Ort verlassen.

Entweder steckt dahinter ein brutales Kalkül, das auf die Vertreibung der Einwohner hinausläuft, um Platz für den Geldadel zu schaffen, oder Fundus hat sich finanziell übernommen, oder beides. Es ist interessant, daß Fundus Wustrow sofort mit 90 Millionen Mark beleihen kann. So wäre der Kauf als Geldbeschaffungsmaßnahme plausibel. Weiter wird in Rerik spekuliert, daß Wustrow gekauft wurde, um es als potentielle Konkurrenz für Heiligendamm auszuschalten. Die Menschen jedenfalls, die hier wohnen, interessieren in diesen Planspielen einen Dreck. Fundus-Projektleiter Claus Wahrlich wurde in der Rostocker Presse mit dem Satz zitiert, eine Schranke zur Halbinsel sei nicht nötig, denn "die Tasse Kaffee und das Stück Kuchen für 14,50 Mark werden die Spreu schon vom Weizen trennen".

Als "Weizen" fühlt sich zweifellos sein Chef Anno August Jagdfeld. Dieser Leistungsträger und Held unserer Zeit faßte in einem Interview seine Vision vom "Aufschwung Ost" so zusammen: "Kein einziger Flop", "von der aktuellen Marktschwäche verschont", "hohe Eigenkapitalanteile", "Verlustzuweisung fürs Finanzamt", "Mietgarantien", "Steuervorteile für die Anleger", "Qualität der Projekte", "zehn Prozent Denkmalschutz-Abschreibung plus zwei Prozent Ausschüttung ab dem zweiten Betriebsjahr", "Verlustzuweisung für die Investitionsphase", "Nachlaß auf die Logiskosten", "zahlungskräftige Gäste". – An diesem Vokabular zerschellen die Revolutionslyrik von 1989 und die freiheitlich-demokratischen Glücks- und Emanzipationsversprechen. – "Unterricht ... in Flucht als Protest", hatte Arno Schmidt 1957 zu "Sansibar oder der letzte Grund" angemerkt und, wie in Anspielung auf den ausgreifenden Ökonomismus, ratlos hinzugefügt: "Aber wohin heute?!" Vierzig Jahre später ist diese Ratlosigkeit auch in Mecklenburg angekommen.

Auch in puncto Politik ist der Wustrow-Verkauf lehrreich. Von Bundesumweltministerin Merkel, die zugleich CDU-Landesvorsitzende ist, weiß man, daß sie gegen den Verkauf ist, nur hat sie in Bonn nichts zu sagen. Von der Landesregierung aus CDU und SPD ist nach aller Erfahrung ebenfalls nichts zu erwarten, die "Große Koalition" ist eine Große Nullösung. Die PDS, von der sich die Legende hält, sie sei die authentische "Stimme des Ostens", ist fest auf die Rolle des verläßlichen Narren im Parteienkartell abonniert, statt mit Sachfragen profiliert sie sich als Nachlaßverwalter des Ideologiemülls, zu dem die Grünen sich nur noch ausnahmsweise öffentlich bekennen. Freie Bahn also für Polit-Hallodris, um auch in "Meckpom" mit der Losung hausieren zu gehen: "Laß dich nicht zur Sau machen!" Die nächsten Wahlen zum Schweriner Landtag finden parallel zu den Bundestagswahlen am 27. September statt. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß die DVU bei dieser Gelegenheit ihren Wahlerfolg von Sachsen-Anhalt wiederholt.


 
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