© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
Mythen, Techno, Alt-68er: Wien bei Nacht besehen
Eine lässige Stadt
Manuel Ochsenreiter

Als der Zug in den Bahnhof einfährt, bin ich gerädert. Elf Stunden Fahrt durch die Nacht, sieben Ausweis- und Zollkontrollen, drei längere Aufenthalte mit ein- und aussteigenden, lärmenden Schulklassen. Die Strecke Berlin–Wien über Prag verlangt dem Reisenden einiges ab. Und im Zug die üblichen Wichtigtuer, die einem permanent ein Gespräch aufzwingen wollen. "Ich fahr jetzt zum 34. Mal nach Wien, in Tokio war ich noch nicht so oft…". Zugfahren kann so ätzend sein.

Doch in Wien angekommen, werde ich schon vom Bahnsteig abgeholt. Mit einem breiten österreichischen "Servus" begrüßt mich Graf Johann Gudenus mit feschem Trachtenjanker und reißt mir die Tasche aus der Hand. Johann – "Joschi", der hochgewachsene, 21jährige Jurastudent, FPÖ-Bezirksrat und Techno-DJ wird in den nächsten Tagen mein Reiseführer durch das unbekannte Wien, das Wien jenseits der Fremdenverkehrsprospekte.

"Ein Begrüßungskomitee ist auch schon da", lacht Joschi beim Gang durch die Halle des Wiener Süd-Bahnhofs. Mitten in der Halle stehen ungefähr 25 ältere Leute und sprechen rhythmische Sätze, die keiner versteht. Eine Frau mit langem Rock und Strickpullover steht in der Mitte und schreit ab und zu. Auf einem Plakat ist zu lesen, was los ist: 30 Jahre Studentenrevolte 1968. Der Revolutionschor singt. Ich muß grinsen. Die österreichischen Alt-68er sind ja noch bescheuerter als unsere.

Doch wieso überhaupt Wien? Auf Einladung von Johann Gudenus und dem junge freiheit-, und Zur Zeit-Mitarbeiter Jürgen Hatzenbichler die dortige Szene zu besuchen, bin ich jetzt in der österreichischen Hauptstadt.

Auf der Fahrt zu Joschi bekomme ich unter dröhnendem Techno-Sound eine Schnell-Stadtführung, die wohl jedem Kulturliebhaber die Zehennägel aufrollen würde. "Da hinten ist die Hofburg, hier der Volksgarten und gleich kommt das Parlament." Mit einem Affenzahn brettert er durch die altehrwürdige Stadt und würdigt im Vorbeifahren die imperialen Gebäude.

Joschi gibt schließlich das Abendprogramm bekannt: Treffen mit den anderen vom RFJ (Ring Freiheitlicher Jugend) im Prater. Oh Gott, schießt es mir in den Kopf. Nicht schon wieder mit "Buxen" feiern müssen. Ist doch klar wie das abgeht: Einer erzählt den ganzen Abend von seiner 16. Mensur, der andere entlarvt mich als "Verräter", weil ich Jeans statt Cord trage und Fax statt Fernbild sage. Die Themen kreisen dann um Kreta, Ostfront und um die Luftschlacht um England, und irgendein ganz Schlauer verpaßt sich selbst den Exotenbonus, indem er sich als "linksnational" betitelt. Und den ganzen abend lang Diskussionen, welche Rechtspartei denn die "Richtige" sei. Nein, das bitte nicht.

Es kommt jedoch völlig anders. Es wird ein netter Kennenlern-Abend ohne Polit-Kraftmeierei. Mit ungefähr 15 Leuten ergibt sich ein lustiger Biergartenabend beim "Heurigen". Der "lässige Verein", wie Joschi seine Jung-Freiheitlichen nennt, ist kein Club verklemmter Polit-Nachwüchslinge.

Der Höhepunkt sollte aber erst später kommen. "Gazometer" heißt das Zauberwort, das bei Joschi & Co. die Augen zum Leuchten bringt. Das "Gazometer" ist eine der größten und wuchtigsten Raves Österreichs. In einem der vier in Wien stehenden alten Gasometer findet allmonatlich ein heftiges Gewitter statt. Joschi, der seinen Janker inzwischen gegen Jeans, Armeeunterhemd und eine riesige Sonnenbrille vertauscht hat, fährt gegen elf Uhr nachts zum Ort des Geschehens. Mittlerweile hat sich auch Jürgen Hatzenbichler, selbst ein "Gazo"-Stammgast, in ähnlichem Outfit zu uns gesellt. Im leichten Nebel erreichen wir den majestätischen, runden Bau, der mich sofort an ein Colosseum erinnert. In den wenigen kleinen Fenstern blitzen Lichter auf, unten stehen hunderte von Menschen vor dem Einlaß. Joschi geht kurz vor und führt uns zum VIP-Eingang. Man kennt sich. Endlich drinnen, entfaltet sich die volle Wirkung des Baus. Durch die Wölbung im Boden und die kreisrunde Form hat das "Gazometer" eine besondere Akustik. Gleichsam auf einem Altar von Lautsprechern umrahmt, steht der DJ und legt die Platten auf. Joschi winkt kurz hinauf, die Begrüßung wird erwidert. Martialisch bricht eine mir bis dahin völlig unbekannte Klang- und Farbenwelt über uns herein. Sieben Stunden später tauchen wir wieder auf und verlassen den Bau, den ich garantiert nicht zum letzten Mal besucht habe. Weiter auf dem Weg durch das unbekannte, inoffizielle Wien steht ein Treffen mit Kadmon, dem Kopf der Dark-Wave-Formation "Allerseelen" und Herausgeber der Heftreihen Ahnstern und Aorta. Nein, Kadmon ist kein düsterer Hüne in wallenden Gewändern und Schaftstiefeln, sondern ein eher unauffälliger, aber nicht uninteressanter Zeitgenosse. Nächtens durchstreifen wir die Wiener Innenstadt, und Kadmon erzählt von den Sagen, die sich seit Jahrhunderten um die alten Gebäude ranken. Er erweist sich als Spezialist auf dem Gebiet vorzeitlicher Mythen und heidnischer Kulte, er zeigt offensichtliche aber dennoch unbekannte steinerne Zeugnisse eines anderen, eines geheimen Wiens. Da ist zum Beispiel der Stephansdom, an dem nicht nur christliche Ornamente und Figuren zu finden sind, sondern auch mythische, geschlechtslose Figuren heidnischer Religionen.

Passend dazu endet die etwas andere Stadtführung im Augustinerkeller, einem Bierkeller unweit des antifaschistischen Denkmals von Alfred Hrdlicka. Das führte in der Vergangenheit zu Irritationen. So mußte die Skulptur des "die Straße waschenden Juden" mit einem kantigen Drahtgerüst gesichert werden. Nein, nicht Neonazi-Trupps sind es, die dem Denkmal zusetzen, sondern vor allem japanische und amerikanische Touristen, die sich für ein Erinnerungsfoto gerne darauf setzten.

Vorurteile können stimmen. Die Wiener sind tatsächlich ruhiger und lässiger als die hektischen Norddeutschen. Die Melange wird halt nicht so heiß getrunken, wie sie serviert wird. Österreich, das Land des Bergdoktors und des Almdudlers, der Trachten und der Briefbomben ist auf jeden Fall eine Reise wert. Kaum in den Zug eingestiegen, gesellt sich ein älterer Herr ins Abteil. "Fahrn’s zum ersten Mal nach Berlin?" lautet seine Frage. Ich verneine. "I war auch achtmal dort…" beginnt er seinen Monolog.


 
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