© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    29/98 10. Juli 1998

 
 
Das Jahr ´68: Die letzte ersatzreligiöse Utopie war eine Revolution
Linke und rechte Zauberei
Günther Nenning

Oh Gott, das wird vielleicht ein Jahr, das 98er. Das ganze Jahr wird das Karussell sich drehen: 30 Jahre 1968, Gedenken und Polemik, Würdigung und Herabwürdigung. Nostalgie, weil halt seither nichts los war im Reiche des Geistes.

Aber auch Angst. Die 68er sind tot, auch wenn sie noch leben. Sicherheitshalber werden sie noch einmal oder mehrmals totgeschlagen. Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus, Sexualismus, Terrorismus – nieder mit ihnen! Das ist doch auch richtig, oder – schräger Blick von unten nach oben – sind Sie nicht auch dieser Meinung?

Ein besonders raffinierter Trick beim Totschlagen des Jahres 1968 ist die Einengung auf das interessante Sonderthema: 68er, die von links nach rechts gingen. Es ist mir verdächtig, es klingt nach: Ätsch, Ihr 68er, nicht nur ist aus Euch nix geworden, außerdem und überdies wurden so manche von Euch zu Rechten, und nicht gerade die Schlechtesten, und das ist noch das Bemerkenswerteste an Euch.

Das ist einseitig, aber keineswegs gänzlich falsch; und eben drum ist es mir verdächtig. Verdächtigen Gedankengängen soll man sich nicht entziehen, sondern im Gegenteil. Zumachen gegenüber verdächtigen Gedanken ist ein Zeichen von Schwäche, Mangel an Selbstbewußtsein. Ich hab’ genug Selbstbewußtsein, um davon noch weiterzugeben an Linke und Rechte und Linke, die nach rechts gingen, und Rechte, die nach links gehen werden, wenn die Zeit reif wird. Denn es wird einen neuen Sozialismus geben, eine christlich-soziale Revolution. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Mit Brecht geht alles besser, drum wird er heuer, da die 68er dreißig werden, hundert; und der Feiern kein Ende.

Ich gehe aus von einer Diskussionsgrundlage, die viel breiter ist als das Links-rechts-Spiel: Das Jahr 1968 war das letzte, jüngste Revolutionsjahr im Westen. Genauer: politische Umwälzung gab’s seither reichlich, geistige Revolution nicht, und alle wirkliche Revolution ist in erster und letzter Instanz geistige Revolution. Das Jahr ’68 war ausschließlich geistige Revolution, soweit es überhaupt Revolution war: Theatralische Revolution; politisch und ökonomisch hat es ja nichts bewirkt. Das Geistige des Jahres ’68 aber wirkt nach bis heute und morgen.

Das Jahr ‘68 hatte eine kathartische Funktion

So erklärt sich die spaßige Tatsache, daß man 1998, knapp vor der allermodernsten Jahrtausendwende, nicht etwa mit gebührender Achtlosigkeit vorübergehen wird an dieser real ja gescheiterten Revolution, sondern im Gegenteil. Die allereifrigsten Veranstalter von 68er-Gedenken sind komischerweise jene, die das 68er-Jahr negativ sehen. Das heißt: Sie kommen eben nicht darum herum; 1968 war das letzte geistige Großereignis. Seither ist der Zeitgeist achtlos geworden. Und da doch der echt Konservative hochhält, daß es der Geist ist, der den Menschen und die Geschichte baut, bleibt dem echten Konservativen kein sonstiger Gegenstand zeitgeschichtlichen Interesses als das linke Jahr ’68. Das ist paradox, aber beweiskräftig.

Zum Unterschied von der trägen, breitärschigen Mitte haben die beweglichen Linken und Rechten gemeinsam, daß sie stets auf der Suche sind nach Revolution. Der enttäuschte Linke geht nach rechts, wenn die erhoffte linke Revolution ausgeronnen ist, seine Sehnsucht aber dauert an.

Das Jahr ’68 war ein erfolgreiches Scheitern. Erfolgreich, weil genug Geist produziert wurde, daß wir heute und morgen noch zu knabbern haben in geistlosen Zeiten. Gescheitert, weil der neue Himmel und die neue Erde nicht kamen, sondern statt dessen die RAF, die Negation der Revolution, der Umschlag von revolutionärem Geist in revolutionären Blödsinn.

Seither haben wir vor uns und schon mitten unter uns: eine politische Revolution negativer Art: das Abdanken der Parteien, des Staates, der Politik vor der Macht und Übermacht der Wirtschaft. Und eine wirtschaftliche Revolution negativer Art: eben diese Machtübergabe der Politik an die Wirtschaft. Die Wirtschaft nimmt den Staat unter ihre Füße und trampelt auf ihm herum. Die Wirtschaft ist der Gott, der den Globus nach seinem wahnwitzigen Bilde formt, und abzuwarten bleibt, ob der Globus das aushält. (Ich glaube schon, die christlich-soziale Revolution wird gerade noch rechtzeitig, im letzten Augenblick greifen.) Das alles also haben wir, nur Geist haben wir eben nicht. Daher müssen wir uns mit dem Jahr ’68 begnügen, und so wenig ist das gar nicht. Der feierliche, ununterbrochene Rückgriff auf ’68 stellt dessen Triumph dar und den Bankrott unseres Zeitalters. Verglichen mit einer Gegenwart, in der Politik und Wischiwaschi deckungsgleich werden, gibt es Anlaß zu einer seltsamen Art von 68er-Triumphalismus. Die Revolution 1968 war kurzlebig, erfolglos, aber geistig einschneidend: die letzte Epoche, in der links und rechts noch scharf begrenzbare Lebens- und Begriffsfelder waren. Sie erfüllt uns mit Dramatik, Lust und Sinn.

Das eigentümlich Antiquierte, Eingetrocknete, Bemitleidenswerte an den heute noch existierenden Linken und Rechten rührt eben daher, daß seit dem letzten lebendigen Links-rechts-Gegensatz satte 30 Jahre vergangen sind. 1968 ist die Mutter der heutigen Rest-Linken, aber auch der Rest-Rechten. Nicht nur die Linke, auch die Rechte, soweit sie geistig irgendwas Interessantes darstellt, ist ein Produkt des Jahres 1968, nämlich jener Linken, die im Gefolge des Scheiterns der Revolution enttäuscht nach rechts wechselten und dort in der historischen, intellektuellen und literarischen Traditions-Rechten sich umtaten auf eigene Faust.

Der heutige Linke wie der heutige Rechte ist 68er. Das haben gescheiterte Revolutionen so an sich, daß aus ihrem Geschichte gewordenen Boden ein Bukett von Blüten gegensätzlicher Farben und Düfte heraustreibt, auch sehr übelriechende. Der Linke, der post ’68 nach rechts ging, ist ein doppelt untypischer Linker. Nicht nur weil er seine politische Farbe wechselte, sondern auch seinen Charakter. Es gibt nämlich so etwas wie einen politischen Charakter, nicht nur eine politische Gesinnung, Anschauung, Meinung oder wie man’s nennen will.

Die Skizze einer Links-rechts-Charakterologie müßte einigermaßen originell geraten, nämlich weniger flach als das hergebrachte politische Schema, mit etwas Mut zur Hypothese und Verachtung der Apodiktik. Dann ließe sich sagen: Der Linke, gleichwohl Revolutionär, ist ein Phlegmatiker; der Rechte ein Sanguiniker. Der Linke ist ein Langweiler. Mit seiner bewunderswerten Zähigkeit im Festhalten des Linken läßt er nicht locker, nicht in den seltenen Augenblicken der Revolution und nicht in der häufigen lebenslangen Unterdrückung.

Jetzt bricht eine Zeit der Religion über uns herein

Unerschütterlich läßt er sich verfolgen, ob von Hitler, ob von Stalin, ob in den sozialdemokratischen Parteien, ob in der liberalen Demokratie. Er ist und bleibt links, er ist und bleibt politisch, aber eben auf ganz andere Weise als der parlamentarisch-demokratische, allzeit wendige Politiker.

Um im Rahmen einer prinzipiellen Skizze zu bleiben, übergehe ich, wie den Sondertyp des Linken, der nach rechts geht, auch den Sondertyp des Linken, der in der Sozialdemokratie was wird, Minister oder sonstwas, indem er sein innen fortdauerndes Links-Sein einkapselt und sich aufopfert auf dem Altar der Partei-Loyalität. Er lebt in der ehrenwerten Irrmeinung, in einer sozialdemokratischen Partei, irgendwie und trotzdem, linke Politik voranbringen zu können. Dies ist ein durchaus häufiger Linkstyp.

Der Rechte hingegen ist als Charaktertyp unpolitisch. Ihn interessieren Emotionen und Ziele, die jenseits des eigentlich Politischen liegen. Ob man das Politische nun als Grundsatztreue faßt, wie der Linke, oder als ein Bewegliches, wie der parlamentarische Politiker – dem typischen Rechten ist beides ungemäß. Er ist mythologisch verfaßt, nicht politisch. Und insofern Sanguiniker, als er durch Wallungen, nicht durch Politik, in ein "Reich" will, in einen ganz andersartigen, jedenfalls nicht politischen Aggregatzustand.

An diesem Punkt angelangt, ist es unmöglich, bei einer abstrakten und insofern wohlwollenden Charakterologie von Linken und Rechten zu bleiben. Rechte wie Linke (nicht gleichermaßen, aber verhängnisvoll ähnlich) sind realhistorisch verstrickt in Massaker, verschlungen von Schuld und Sühne, erschlagen von eingestürzten Schädelpyramiden. In diesem einen Punkte ist der Stalinismus rotlackierter Hitlerismus und der Faschismus braunlackierter Kommunismus – nichts trifft, außer die untilgbaren Qualen des Gewissens.

Auch in diesem Punkte machte die Revolution des Jahres 1968 Epoche. Vor dreißig Jahren wurde zum letzten Mal geglaubt, mit ehrwürdigem, inbrünstigem und lächerlichem Ernst: ein neuer Himmel und eine neue Erde seien erreichbar, nicht auf faschistoide, aber auf sozialistische Weise. Und was die post ’68 von links nach rechts gewanderten 68er betrifft: nicht auf sozialistische Weise, aber auf nichtfaschistische, rechts-mythologische.

Vorbei, vorbei. Das Jahr ’68 ist das letzte, in welchem an den neuen Himmel und die neue Erde als innerweltliches Ziel geglaubt wurde, religionsfrei, genauer: ersatzreligiös.

Das Jahr ’68 hat eine kathartische Funktion: Seither hat, statt gescheiterter Ersatzreligion, wieder die authentische Religion (in Ein- und Mehrzahl) politische Bedeutung. Jene reinigende Funktion nämlich, die Politik von Ersatzreligionen zu säubern.

Die Revolution des Jahres 1968 war die letzte ersatzreligiöse Utopie. Jetzt bricht, Gott steh uns bei, ein Zeitalter der Religion über uns herein.


 
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