© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/98 17. Juli 1998

 
 
Auflösung im Mittelfeld
Achim T. Tölz

Es war die chauvinistischste WM, die das angeblich zusammenwachsende Europa je erlebte. Man stelle sich vor, die deutsche Mannschaft schösse in Berlin gegen Malta ein paar Törchen und jedesmal begänne das Olympiastadion mit dem frenetischen Absingen der Nationalhymne. Diplomatische Verwicklungen bis zur UN-Vollversammlung (Feindstaatenklausel!) wären die sichere Folge. Im vermeintlich "offenen" Frankreich gilt dem Publikum derlei Homogenisierungsmuff als adorable protodemokratische Folklore. Phänomene wie dieses weisen auf die mentale Verfaßtheit hin, deren sich Europas Volksstämme befleißigen, nachdem sie weltpolitisch marginalisiert worden sind. Nur beim Fußball ist die alte Welt noch intakt, nur dort spielen die USA, China, Japan, Indien, Rußland und die islamische Sphäre Nebenrollen.Dr. Blazevic, der Trainer der kroatischen Fußballelf, hielt 90 Minuten lang die typische Mütze des Flic in der Hand; ein französischer Polizeioffizier hatte sie ihm im Kroaten-Quartier geschenkt. Wer einen Hintersinn vermutet, liegt ganz richtig; gewiß wollte der Franzose seinen in Lens von BRD-Hooligans niedergestreckten Kollegen gerächt wissen. Und zwar auf sportliche Weise: Blazevics Panduren möchten doch bitte das arrivierte Fußballdeutschland im Viertelfinalspiel aus dem Turnier eliminieren. Was Suker, Boban und Co. prompt mit drei Toren Unterschied gelang. Geburtshelfer der gallisch-illyrischen Revanche war der künftig für Paris St. Germain spielende Vogts-Zögling Wörns; der biedere Christian fabrizierte einen Platzverweis, der Kroatien auf die Siegerstraße brachte und ein für die Grande Nation womöglich eliminatorisch verlaufendes Duell mit Deutschland verhinderte. Wörns kann somit seine erste Pariser Saison völlig unbelastet beginnen – ein Schelm, der Böses dabei denkt…

Und auch die auf ihre kleine, doch tüchtige Nation so stolzen Kroaten schlugen nicht bloß Bertis Buben, sondern gleich vier Fliegen mit einer Klappe: sie hatten sich für die Europameisterschafts-Niederlage in England 1996 revanchiert, standen plötzlich neben Holland, Frankreich und Brasilien im Quartett der besten Vier, gaben weltweit für ihren noch jungen Nationalstaat eine optimale Visitenkarte ab und sammelten im traditionell serbenfreundlichen Neufranken jede Menge Pluspunkte. Sie befreiten die von ihren 1982er und 1986er WM-Niederlagen noch traumatisierten Veranstalter vom Erb- und Übergegner d’outre Rhin.

Blazevics teutonischer Widerpart Vogts war nach dem Abpfiff kopflos in die Katakomben des Stadions gerannt. Der selbsternannte konservative Erneuerer, der wahlverwandte Adoptivsohn Helmut Kohls brachte es nicht über sich, dem siegreichen Kollegen vom Balkan zu gratulieren. Hans-Hubert V. aus K. (53) entpuppte sich damit als notorischer Übelnehmer und Argwöhner, als ein alles-persönlich-nehmendes Ressentimentbündel Kohlschen Kalibers und darüber hinaus als das Gegenteil eines fairen Sportsmannes. Dies war – nach acht langen Jahren im Amt – jene Minute der Wahrheit, in der Repräsentant Vogts seinem Vaterland nicht bloß sportlich schwer geschadet hat. Seine skurrilen Ausflüchte ("Vielleicht pfiff der Schiri so, weil wir das schwarz-weiße, das zu erfolgreiche Trikot anhatten.") hätte man allenfalls von den schiitischen Kickern des Iran erwartet. Die aber enthielten sich jedes Verschwörungsgeredes, faselten weder von widrigem Kismet, noch vom "großen Satan", sondern schlugen letzteren, sprich die USA, mit 2:1. Vor dem Match gab es Rosen, und nachher wurde imagefördernd fraternisiert.

Keine Spur davon bei Vogts und seinem von ihm auf verbissen gestylten Trupp. Der offenbar nicht bloß ökonomisch dilettierende Euro-Protagonist (Regierungspropaganda: "Berti Vogts meint: Der Euro ist ein Steilpaß ins 21. Jahrhundert") giftete vor den Kameras, daß man glaubte, einen Fußball-Hanussen vor sich zu haben. Die Nachrichtenagentur AFP verbreitete weltweit: "Ungewöhnlich ist es, wenn ein Bundestrainer als Grund für das Ausscheiden eine weltweite Verschwörung gegen den deutschen Fußball ausmacht. Vogts hat mit seinem schnöden Auftritt dem deutschen Fußballsport einen größeren Ansehensverlust zugefügt als seine überalterte Elf auf dem Spielfeld." Was mochte den Bundestrainer dazu gebracht haben, dermaßen die Fassung zu verlieren? Leuchtete ihm in Lyon endlich ein, daß die Schuhe der Herberger (1954), Schön (1974) und Beckenbauer (1990) ihm viel zu groß sind?

Seit mehr als acht Jahren scheut er das Risiko eines Neuaufbaus, dessen Notwendigkeit er gleichwohl ständig beschwört. Nie löste er sich vom Rumpf der Beckenbauerschen Weltmeisterelf von 1990, experimentierte halbherzig und entscheidungsscheu. Unter Einsatz von zwanzig stereotypen Wendungen absolviert er öffentliche Auftritte, doziert so schablonenhaft wie er spielen läßt, mit dem Versuch eines gönnerhaften Grinsens, um sich nach dem letzten Wort mit einem Schmatzlaut, der wie "mhnja" klingt, selbst recht zu geben. Diese Marotte war bislang keinem Beobachter der DFB-Szene eine Erwähnung wert, was den Eindruck bestätigt, daß insbesondere bei den elektronischen Medien der Wille fehlt, der journalistischen Pflicht folgend über Realitäten zu berichten. Da ziert sich u.a. ein bajuwarischer Papplöwe namens "Waldi" Hartmann, seinem Gegenüber kernige Fragen zu stellen. Kritische Fragen als Majestätsbeleidigung – das kannte man bislang nur von Helmut K., dem schwergewichtigen Kaiserslauterer Ehren-Mitglied Nr. 001. Man witzelt herum, schlägt die Sendezeit tot und lächelt sich abgründig zu. Die Welt des Hans-Hubert Vogts und seiner zweiundzwanzig Günstlinge entpuppte sich auf dem Rasen als ebenso virtuell wie ihre mediale Aufbereitung; erst die unsägliche Manier, in der gegen das bislang unbeschriebene Fußball-Blatt Kroatien verloren wurde, tauchte die Mißstände in helles Licht.

Noch grellere Strahlen fielen auf eine Tagesthemen-Sprecherin, die nach dem Debakel über Reaktionen im ethnischen Schmelztiegel Berlin zu berichten suchte. Derzeit an der Spree weilende ImmigrantInnen-Jugend überwältigte den technischen Troß, entriß der Reporterin ihren Regenschirm und skandierte hämisch: "Deutschland, Scheiß-Deutschland! Alles ist vorbei!" Die ausländischen "Mitbürger" ließen es nicht bloß an Integrationswillen fehlen, sie bezeugten randalierend den weitverbreiteten Generalhaß der als "Immis" verharmlosten Underdogs gegen ihre "deutsche" Wirtsgesellschaft – für einige Momente war der Pesthauch nonsimulativer Bürgerkriegsfeindschaft ins politisch korrekte, das heißt manipulative Phantasiadeutschland der ARD gedrungen.

Wie so vieles in den verlorenen Vogts-Jahren geriet auch die mißglückte Frankreich-Tournee postmodern-simulativ: man rechnete mit inexistent gewordenen Beständen, betrieb Ignoranz und Schönfärberei so intensiv, daß es dem Glauben an Wunderwaffen glich. Und über allem thronend der gute Mensch – nicht aus Brechts Sezuan, sondern der Frankfurter Fußballverbandszentrale: "Pater" Egidius Braun, der 73jährige Aachener Ex-Kartoffelgroßhändler, Bertis Wahl-Großvater ("Jawohl, Herr Braun!"). Das in Frankreich so kraß zutage tretende Elend der deutschen Elitekicker begann nach dem römischen WM-Triumph von 1990: zum einen demissionierte "Teamchef" Beckenbauer (den man in seiner derzeitigen RTL-Spielart nicht unbedingt mögen muß) und zum anderen, weit wichtigeren, raffte ein plötzlicher Tod Hermann Neuberger, den exzellenten DFB-Manager, hinweg; er hatte den Verband professionell an die Weltspitze geführt. Die Erfolgsgeschichte der siebziger und achtziger Jahre hatte Neuberger wesentlich mitgeschrieben; schon bald nach seinem Tod zeigte sich, daß ihm keine Zeit blieb, sein Feld zu bestellen. Die égide des DFB-Großalmoseniers Braun ("symbolpolitisch agieren") brachte Niedergang, Mediokre fanden zueinander: der seit 1980 im Verband als Jugendapostel wirkende Vogts tauschte seine Knabenteams gegen die 1990er-Weltmeisterelf; der als Trainer erfolglose Ex-Goalgetter Johannes Löhr bekam den Vogts-Job, und Berti holte sich den eckigen Bonhof an die Seite. Er umgab sich mit einem Rattenschwanz von Spesenrittern, die beobachten, begutachten, pflegen, betreuen, organisieren, kochen, massieren, waschen, bügeln, Hütchen stellen und was dergleichen nationalmannschaftlich unverzichtbare Dinge mehr sind.

Egidius, der Hindenburg des DFB, aber scheint entschlossen, sich an kein neues Gesicht mehr gewöhnen zu wollen, eine Eigenart nicht bloß des CDU-Jahrgangs 1925. Dem knallharten Business-Fußball geht er aus dem Weg, bewältigt lieber mit Hilfe "unserer Nationalmannschaft", was bewältigen zu müssen halb Deutschland glaubt. Da befördert er seinen Verbandssprecher Niersbach, der an den Ex-Pfarrer Hintze erinnert, soeben mal zum "Pressedirektor". "Tadelloses Auftreten" insbesondere "in Polen, Israel und Südafrika" ist wichtiger als die Sicherung der unter Neuberger imposant erreichten Standards. Die Qualität des Leitungspersonals sackte unter Braun ab, gleicht heute einer Kamarilla: Braun und Vogts, die Mediokren ohne Charisma, haben sich zu einem DFB-Lebensbund gefunden und verknüpfen den Weg der Auswahlmannschaften und Ligen mit ihrem privaten Wohl und Wehe.

Das ist unerhört, undemokratisch und unseriös. Unverkennbar Überforderte sind drauf und dran, nachdem Kohl die D-Mark als nationales Währungshoheitssymbol vernichtet hat, die allerletzte weltweit geachtete Gemeinschaftsrepräsentanz der autochthonen Bevölkerungsmehrheit zu demolieren. Das Braunsche Küchenkabinett aus genehmen Schranzen und Kopfnickern kann denn auch auf den Bonner Endloskanzler als "Ergänzungsspieler" zählen, gemeinsam trottet es mit den immergleichen Günstlingen (K-Gruppe: Klinsmann, Köpke, Kohler u.a.) auf ausgelatschte Pfaden weiter. Intrigant zieht der schwäbische Skandalminister Mayer-Vorfelder seine Strippen; nachdem er soeben als Mann des weltweit reichsten und größten Sportverbandes im FIFA-Exekutivkomitee einem Malteser(!) hat weichen müssen, ist der DFB in keinem wichtigen Gremium des Weltverbandes mehr vertreten. Als Liga-Ausschuß-Chef betreibt er seine Wahl als Braun-Nachfolger. Dazu prädestiniert ihn eine -zig Jahre währende Diktatur über den VfB Stuttgart (mit den wenigsten deutschen Spielern!) sowie die Forderung, "mehr Ausländer-Kinder für unsere Auswahlmannschaften zu gewinnen".

Schützenhilfe erhält der CDU-Minister von CSU-Sympathisant Beckenbauer, der das standortliche Layout der europäischen Mitte internalisiert und sein Fähnlein wie stets in den Wind gehängt hat. Soeben ließ er per Welt-Interview verlauten, "national begrenzte Auswahlmannschaften" seien passé. Es komme zur Europa-Liga aus Vereinsmannschaften (recte : Aktiengesellschaften), und das Nationale träte in den Hintergrund: "Die deutsche Nationalelf wird es eines Tages nicht mehr geben. Europa wächst zusammen." Damit dürfte sich der für Geld und Esoterik anfällige Stromlinien-Kaiser ("Kraft in den Teller – Knorr auf den Tisch!") als Sportminister der großen Aussitzer-Koalition aufgedrängt haben.

Beckenbauers halboffiziöse Reaktion auf die deutsche WM-Krise lautet: Auflösung der Nationalmannschaft. Bei der freiwillig-willfährigen Auflösung eigener Bestände sind just die unionschristlichen Landpfleger Abonnement-Weltmeister. Mit ihnen steht, spätestens seit 1990, das größere Übel zur Wahl. Ihrer Untertanen ("unsere Menschen") können sie sicher sein: Wer sich selbst sein Geld in nullkommanichts wegadministrieren läßt, nimmt aufgeklärt und kritisch wohl jede Anwendung von "Lösung durch Auflösung" hin.


 
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