© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/98 17. Juli 1998

 
 
Harte Realitäten
Dieter Stein

Dank Sachsen-Anhalt haben die harten Themen den Wahlkampf erreicht. Kampagnen allein mit schönen Gesichtern und weichen Slogans versprechen nun keine Aussicht auf Erfolg. Angesichts des hohen Protestpotentials unter den Wählern sehen sich die Politiker aller Parteien gezwungen, sich etwas näher an die Realitäten in unserem Land heranzutasten.

Der von den Grünen 1989 zur SPD übergewechselte Politiker Otto Schily ist so ein Fall. In einem Zeitungsinterview erklärte er vor wenigen Tagen zum Thema Ausländerpolitik seinen eigenen Anhängern seine Auffassung: "Integration setzt nicht nur Leistungen des Aufnahmestaates voraus. Sie ist auch eine Leistung, die die Zuwanderer erbringen müssen. Man muß ihnen bestimmte Selbstverständlichkeiten abverlangen. Dazu gehört, daß wer hier seinen dauerhaften Wohnsitz nimmt, die deutsche Sprache erlernt, seinen Kindern die deutsche Sprache beibringen läßt und Recht und Verfassung achtet."

Man kann Politiker wie Otto Schily oder Gerhard Schröder nur dazu beglückwünschen, wenn es sich zu ihnen herumgesprochen haben sollte, daß Deutschland an Grenzen gestoßen ist. Es ist aber phänomenal, daß diejenigen, die von sich behaupten, das Gemeinwesen zu führen oder führen zu können, als allerletzte mitbekommen, wenn das Wasser bereits bis zum Kinn steht. Vielleicht liegt es daran, daß sie das Kinn zu hoch tragen und zuviel in den Himmel schauen, statt zu sehen, was auf der Erde passiert.

Jedenfalls ist das Thema "Ausländer und Einwanderung" wieder auf Platz 1 der Themen-Hitliste gerutscht. Und wieder beschweren sich einige, die geistig Ende der siebziger Jahre stehengeblieben sind, darüber, daß doch ein solches Thema nicht "in den Wahlkampf hineingezogen werden darf". Schade, daß sie in einer Demokratie leben. Da darf man das nämlich. Besonders dann, wenn es einer größeren Zahl von Menschen auf den Nägeln brennt.

Und solange nichts Grundlegendes an den politischen Koordinaten in Deutschland verändert wird, solange Deutschland fast die Hälfte aller Asylanten aufnimmt, die nach Europa kommen, und nicht in der Lage ist, den Zustrom drastisch zu beschränken und Ausländer, mit denen das Land nichts anfangen kann und die keinen Anspruch auf Asyl haben, zügig zur Ausreise zu bewegen, solange steht dieses Thema oben auf der Tagesordnung. Nur dürfen sich die Unionsparteien nicht zu früh freuen, wenn sie nun – besonders laut die CSU in Bayern – markigen Wahlkampf unter der Parole "Wir sind kein Einwanderungsland" führen: Sie haben die Politik der letzten 16 Jahre voll zu verantworten. Sie waren zu blind und feige, bereits 1982 das Ruder rechtzeitig herumzureißen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen