© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/98 24. Juli / 31. Juli 1998

 
Mutmaßlicher Tod
von Konrad Kranz

Das Urteil des Oberlandesgerichtes Frankfurt am Main hinterläßt ein Unbehagen. Das Gericht hat am Montag entschieden, daß bei todkranken Patienten unter bestimmten Voraussetzungen Vormundschaftsgerichte die Sterbehilfe genehmigen dürfen; diese sei dann zulässig, wenn sie "dem zuvor geäußerten oder dem mutmaßlichen Willen" des Patienten entspräche und wenn "ein bewußtes und selbstbewußtes Leben nicht mehr zu erwarten ist". Im Wort "mutmaßlich" liegt das Problem. Im behandelten Einzelfall hatten die Richter zu entscheiden, ob ein Vormundschaftsgericht für ärztliche Maßnahmen eine Genehmigung erteilen darf, wenn es sich um "Hilfe zum Sterben" handelt. Konkret ging es um eine 85jährige Patientin, die nach einem Hirninfarkt im Koma liegt und mit vollständigem Verlust der Kommunikationsfähigkeit längere Zeit in einem Krankenhaus über eine Magensonde ernährt wird, ohne daß eine Besserung des Zustandes erwartet werden kann. Die Tochter der Patientin hatte beim Vormundschaftsgericht die Genehmigung zur Einstellung der künstlichen Ernährung beantragt, die auch von den Ärzten empfohlen wurde. Unter Vorlage mehrerer eidesstattlicher Versicherungen hatte sie auf den erklärten Willen der Mutter verwiesen, kein langes Sterben ertragen zu wollen. Zu begrüßen ist zunächst, daß das Frankfurter Urteil vorläufige Rechtssicherheit schafft in einem sensiblen Bereich. Es ging ausdrücklich nicht "um passive Sterbehilfe, sondern um den Abbruch einer lebenserhaltenden Maßnahme und damit um Hilfe zum Sterben". Damit ist auch eine Art "Sterbehilfe durch Unterlassen" gemeint, wenngleich aktive Sterbehilfe eigentlich das gezielte Herbeiführen des Todes meint, etwa durch Verabreichung eines Medikamentes. Das Gericht verwies darauf, in jedem Einzelfall müsse es gelten, "den Konflikt zwischen dem hohen Anspruch auf die Achtung des Lebens und dem ebenfalls hohen Anspruch der Selbstbestimmung der Person und ihrer Würde zu lösen"; bei nicht aufklärbarer Einwilligung sei dem Lebensschutz Vorrang einzuräumen. Die harsche Kritik von Lebensrechts-Gruppen, das Urteil ebne den Weg zur Euthanasie, ist überzogen. Sie achtet die Würde des Sterbenden nicht. Was ist am Leben im Koma von Gnaden irgendwelcher Apparate human? Gleichwohl bereitet es ein Unbehagen, nun Vormundschaftsrichter über die Rolle von schnellem Tod und komatösem Leben entscheiden zu sehen. Wie wird die Beweisführung des mutmaßlichen Sterbewunsches erfolgen? Sind die Hürden gegen einen Mißbrauch hoch genug? Welche Bedeutung spielen die Angehörigen, wie werden deren eventuelle Interessen herausgefiltert? Testamente jedenfalls sollten demnächst um einen rechtsgültigen Passus erweitert werden.


 
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