© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/98 24. Juli / 31. Juli 1998

 
Rechtschreibreform: Politiker wollen den Volksentscheid in Schleswig-Holstein ignorieren
Mißbrauch staatlicher Kompetenz
von Thorsten Thaler

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu der umstrittenen Neuregelung der deutschen Rechtschreibung (die JF berichtete) konzentrieren die Reformgegner ihre Bemühungen, das neue Regelwerk doch noch zu verhindern, jetzt auf den Volksentscheid in Schleswig-Holstein am 27. September, dem Tag der Bundestagswahl. Die Schleswig-Holsteiner hätten es in der Hand, die Reform im gesamten deutschen Sprachraum zu stoppen, erklärte Matthias Dräger, Sprecher der Bürgerinitiative "Wir gegen die Rechtschreibreform".

Zur Abstimmung stehen zwei Alternativen, die sich auf den ersten Blick allerdings kaum unterscheiden. So fangen beide Vorlagen mit der Formulierung an "In den Schulen wird die allgemein übliche Rechtschreibung unterrichtet". In dem Text der Reformgegner heißt es dann weiter, als allgemein üblich gelte die Rechtschreibung, "wie sie in der Bevölkerung seit langem anerkannt ist und in der Mehrzahl der lieferbaren Bücher verwendet wird". Damit ist das bisher gültige Regelwerk gemeint.

In der Vorlage der Reformbefürworter heißt es dagegen nach dem ersten Satz weiter: "Als allgemein üblich gilt die Rechtschreibung, wie sie in den übrigen Ländern der Bundesrepublik Deutschland für die Schulen verbindlich ist." Diese Vorlage hatte der Kieler Landtag Anfang Juli mit den Stimmen der Mehrheitsfraktionen von SPD und Grünen beschlossen. Nach dem offiziellen Inkrafttreten der Rechtschreibreform am 1. August sind mit dieser Formulierung die neuen Regeln gemeint.

Als dritte Möglichkeit können die Schleswig-Holsteiner auch beide Gesetzentwürfe ablehnen. Für einen aus Sicht der Reformgegner erfolgreichen Ausgang des Volksentscheids ist neben der einfachen Mehrheit die Zustimmung von mindesten 25 Prozent aller Wahlberechtigten im nördlichsten Bundesland erforderlich; das sind rund 530.000 Stimmen. Das Votum der Bürger erlangt Gesetzeskraft.

SPD-Ministerpräsidentin droht dem eigenen Volk

Wenig glücklich über einen denkbaren Erfolg der Initiative "Wir gegen die Rechtschreibreform" zeigt sich Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD). Schon drohte sie diese Woche in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus ihren unbotmäßigen Landeskindern. Bei einem für die Reformgegner positiven Ausgang des Volksentscheides würden Kinder in Schleswig-Holstein eine andere Rechtschreibung lernen als in den anderen Bundesländern. Die Folgen wären "fatal", sagte Frau Simonis. Die Initiatoren des Referendums könnten nicht wollen, erklärte die Regierungschefin, daß der Streit auf dem "Buckel der Kinder" ausgetragen werde.

Daß die bereits eingetretene Verunsicherung weiter Bevölkerungskreise von den Kultusministern ausgeht, die ihre unsinnige Reform lange vor dem offiziellen Start in den Schulen eingeführt haben, kommt der Ministerpräsidentin nicht in den Sinn. Statt dessen kündigte sie unverblümt an, bei einem Erfolg der Reformgegner den Volkswillen mißachten zu wollen. "Dann könnten wir das per Volksentscheid zustande gekommene Gesetz durch ein neues korrigieren", diktierte sie dem Focus-Interviewer in den Block. Als Folge davon vermutet sie eine erneute Klage; dieses "Spiel" könne so lange gehen, bis die Schleswig-Holsteiner "der Lächerlichkeit preisgegeben sind", sagte Heide Simonis.

Dem gegenüber wertete der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Rupert Scholz, den Volksentscheid in Schleswig-Holstein als "Beginn einer sprachlichen Gegenreformation", die demokratisch legitimiert sei. "Dies hat auch die Kultusbürokratie zu respektieren", erklärte Scholz. Er verwies auf das höchstrichterliche Urteil aus Karlsruhe, wonach der "Volksgesetzgeber" in Schleswig-Holstein verfassungsrechtlich nicht gehindert ist, gegen die Reform zu stimmen und damit ihr Inkrafttreten in diesem Bundesland zu verhindern.

Der rheinland-pfälzische Bildungsminister Jürgen Zöllner (SPD) kann sich hingegen "nicht vorstellen, daß ein so weit fortgeschrittener und international abgestimmter Prozeß" durch einen Volksentscheid noch umgekehrt werden kann. Auch die Kultusminister von Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt halten eine Rücknahme der neuen Rechtschreibregeln für ausgeschlossen. "Die Reform ist nach dem Karlsruher Urteil in Sack und Tüten, und da wird sie auch bleiben", erklärte Sachsen-Anhalts SPD-Kultusminister Karl-Heinz Reck. Sein Amtskollege und Parteifreund in Hessen, Hartmut Holzapfel, attestierte den Reformgegnern sogar ein "merkwürdiges Demokratieverständnis", wenn sie behaupteten, ein "Nein" beim Volksentscheid in Schleswig-Holstein führe zu einem Ende der Schreibreform.

Schriftsteller plädiert für bundesweite Abstimmung

Für eine bundesweite Volksabstimmung hat sich unterdessen der Schriftsteller und Dramatiker Rolf Hochhuth ausgesprochen. In einem Gastbeitrag für die Welt am Sonntag betonte Hochhuth, es sei "peinlich, ja furchtbar, daß wir Betroffenen, das Volk, kein Wörtchen mitzureden haben". Er verwies auf Beispiele in Dänemark, Holland oder der Schweiz, wo Volksabstimmungen in der Verfassung verankert seien. "Wieso dann nicht auch wir, wenn es um Elementares geht wie um die Sprache?" fragte Hochhuth

Mit seinem Plädoyer befindet sich der Schriftsteller in Übereinstimmung mit einer überwältigenden Mehrheit der Deutschen. So sind nach einer aktuellen Umfrage des Münchner Polis-Instituts 72 Prozent der Bundesbürger für einen bundesweiten Volksentscheid. Von rund 1.000 Befragten sprachen sich zudem 84 Prozent gegen die neuen Rechtschreibregeln aus. Nur 12 Prozent waren der Meinung, die Reform solle wie geplant umgesetzt werden.

Für einen "Mißbrauch staatlicher Kompetenz" hält der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Christian Meier, die Eingriffe der Reform. In einer "persönlichen Stellungnahme" erklärte er, es stehe dem Staat nicht zu, den Schreibgebrauch gegen den "Veränderungssinn der Schriftentwicklung" absichtlich zu verändern. Der einzige tiefere und mit Absicht ändernde Eingriff in die deutsche Rechtschreibung, so der Akademie-Präsident, sei 1944 die Reform des Reichserziehungsministers Rust gewesen, die sich durch das Ende des Dritten Reiches erledigt habe. "Diesmal wird das schwieriger", meinte Meier.


 
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