© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/98 24. Juli / 31. Juli 1998

 
Das Tabu der Sexuellen Freizügigkeit
von Mathias von Gersdorff

Die Entrüstung der Bevölkerung ist erheblich. Die Politik steht noch stärker unter hohem Erwartungsdruck als bei den schrecklichen Kinderschändungen in Belgien und auch Deutschland. Nach der Aufdeckung des Kinderporno-Netzwerks in der vergangenen Woche in den Niederlanden sind sich Politiker aller Fraktionen einig, daß die Bekämpfung der Kinderpornographie deutlich verstärkt werden muß und die Vertriebswege, vor allem im Internet, ständig polizeilich überwacht werden sollen. Für die Fahndung im Internet sollen Polizeibeamte ausgebildet und ausgerüstet werden.

Daß Politiker sich über ideologische Schranken hinwegsetzen und für die Sicherheit der Kinder eine breite Front bilden, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Doch von einer solchen Selbstverständlichkeit ist Deutschland weit entfernt. Worum es geht, hat die Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Edith Niehuis (SPD) bereits am 5. Dezember 1996 im Bundestag während einer Debatte erklärt, in der Maßnahmen gegen Kinderschändung erörtert worden sind. Vehement verteidigte sie die sexuelle Revolution in ihrer Ansprache: "…Aber auch jene irren, die die gegenwärtige Diskussion ausnutzen wollen, um den liberalen Umgang mit der Sexualität zu brandmarken und diesen als eine Ursache von Sexualstraftaten hinzustellen. Wie ich der Wochenpost vom 21. November entnehmen konnte, gehört leider auch die für Jugend zuständige Ministerin Nolte zu jenem Kreis, der mit einem Blick auf die 68er den liberalen Umgang mit der Sexualität im Zusammenhang mit dem sexuellen Mißbrauch brandmarkt. Meine Damen und Herren, wer so ansetzt, macht eine falsche Kinderpolitik und macht keine gute Politik zum Schutz von Kindern."

Was die Abgeordnete Niehuis unter "liberalem Umgang mit der Sexualität" versteht, ist die sogenannte Sexuelle Revolution, die ein wesentlicher Punkt in der revolutionären Agenda der 68er war und sich politisch im Jahr 1972, während der Regierung Brandt, durchsetzte, als diese das Verbot der Pornographie (§ 184 StGB) abschaffte. Seitdem ist es möglich, Zeitschriften pornographischen Inhalts öffentlich anzubieten. Hatten die 68er sich zunächst davon eine rapide Abnahme der Sexualdelinquenz versprochen, so ist inzwischen klar, daß das Gegenteil der Fall ist.

Diese Freiheiten sind in den folgenden Jahren sowohl schleichend wie offiziell immer weiter ausgeweitet worden. Die Sexualisierung hat sich seitdem ohne viel Aufhebens und Diskussionen auf immer abseitigere Gebiete der Sexualität ausgedehnt. Nicht mehr nur die herkömmliche Pornographie gilt seitdem als gesellschaftsfähig, den sexuell "befreiten" Kunden wird die normale Pornographie zu langweilig. Nicht nur im Film verliert die Sexualisierung durch die 68er endgültig ihr romantisches Gesicht: Es ist ein explosionsartiger Anstieg an Produktionen mit Vergewaltigungen, Nekrophilie, Sadismus, Sodomie, Sex mit Kindern, Sex mit Tieren, Sex mit Teufeln, Sex mit Monstern, Sex mit Maschinen usw. zu verzeichnen. Medienexperten versuchen darzulegen, daß es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem immer aggressiver-sexualisierten Medienangebot und immer aggressiver ausgelebten sexuellen Praktiken nicht gebe.

Tagtäglich behandeln Talkshows alle möglichen sexuellen Ausschweifungen und Perversionen. Tagtäglich werden Millionen Menschen mit immer grausameren und perverseren Filmen, Videos und Videospielen bombardiert. Die Behauptung interessierter Kreise, das alles habe keine signifikanten Folgen für die Handlungen und Wertmaßstäbe der Zuschauer ist nachweislich falsch.

Die gerade von linker Seite immer wieder zu hörende Erklärung, die sich verselbständigende Brutalisierung sei allein Folge gesellschaftlicher Ursachen wie Arbeitslosigkeit sind Schutzbehauptungen: Verhindert werden soll, daß an die tatsächlichen Ursachen gegangen wird. In der Tat zeigen wissenschaftliche Untersuchungen (J. Groebel/U. Gleich: "Gewaltprofil des deutschen Fernsehens", 1993) daß es einen Zusammenhang zwischen steigender Gewalt in den Medien und der tagtäglichen Gewalt gibt. 70 Morde geschehen durchschnittlich an einem deutschen Fernsehabend. Die Zahlen für die USA liegen ungleich höher. Entsprechend der allgemein höheren Gewalttätigkeit in US-Filmen. Langzeitstudien belegen, daß Gewalttätigkeit dadurch nicht allein verursacht, aber stark gefördert wird.

Inzwischen lebt eine ganze Industrie vom Geschäft mit Sex und Gewalt. Auch hier wird versucht, die Spirale der Gewaltverherrlichung immer weiter zu drehen, immer ausgefallenere, immer gewalttätigere, immer perversere Praktiken zu zeigen und diese als normal oder erstrebenswert hinzustellen. Auch dieser Wirtschaftszweig will zwar ungestört Geschäfte machen, versucht die katastrophalen Wirkungen auf die Menschen jedoch abzuleugnen und die Verantwortung dafür abzulehnen.

Kinderpornographie ist die wohl schlimmste Folge dieser Verrohung. Die Händler seien zum Teil, so der Fahndungschef des bayerischen Landeskriminalamtes, Albert Bischeltsrieder, selbst sexuell abartig und hätten entdeckt, daß sie ihre Taten im Internet auch noch vermarkten können. Die anderen "vermarkten alles, was sich zu Geld machen läßt".

Zwar gehen wissenschaftliche Untersuchungen von einer ungefähren zahlenmäßigen Konstanz der Straftaten in den letzten drei Jahrzehnten aus, jedoch bleiben alle Vermutungen durch die hohe Dunkelziffer im Ungefähren. Doch die einzelnen Taten, das zeigen auch entsprechende Videos, werden immer grausamer. So mußte jetzt sogar die linksliberale Süddeutsche Zeitung eingestehen, daß in den letzten Jahren eine qualitative Veränderung beim Kindesmißbrauch stattgefunden habe. Es gebe Täter, so der Münchner Psychiater und Spezialist auf dem Gebiet der Täterpsychiatrie, Norbert Nedopil, "die suchen direkt danach, immer noch etwas Brutaleres zu tun". Die Opfer werden immer jünger. Inzwischen ist bekannt geworden, daß selbst unter einjährige Säuglinge bestialisch vergewaltigt worden sind. Die Phantasmagorien derjenigen, denen ständig eingeredet worden ist, es gebe nichts anderes als die Verwirklichung eigener Bedürfnisse, gerade auch auf dem Gebiet der Sexualität, haben sich verselbständigt. Die Philosophie des any- thing goes wird hier in ihrer letzten diabolischen Konsequenz sichtbar.

Auf die katastrophalen Konsequenzen dieser täglich erlebten Sexualisierung, unter anderem die Vervielfachung der Fälle von Kinderschändung, Kinderpornographie und Kinderprostitution haben viele Wissenschaftler seit langem hingewiesen. Zu den bekanntesten unter ihnen gehört die Psychotherapeutin Christa Meves ("Manipulierte Maßlosigkeit", 41. Aufl., 1997). In ihrem Buch "Kindgerechte Sexualerziehung" (1995) beschreibt sie die Folgen der "Sexwelle": "Nicht der vervielfältigte sexuelle Mißbrauch der Kinder durch erwachsene Männer allein ist das Ergebnis, sondern darüber hinaus die Zunahme der sogenannten Sexualsucht, der Geschlechtskrankheiten, Abtreibungen, Frauenkrankheiten und Perversionen wie die Zunahme der Ehescheu, Impotenz und Sexualneurosen. Freilich, für jeden Kenner der Triebgesetze war das vorauszusehen. Prognosen darüber sind deshalb in vielen meiner früheren Arbeiten, Vorträge und Aufsätze enthalten und speziell für die neunziger Jahre immer wieder erstellt worden. Wie richtig sie waren, läßt sich jetzt an den Ergebnissen lesen."

Fast automatisch stellt sich die Frage, wieso die Politiker und die Medien die Sexualisierung und ihre Auswirkungen so lange politisch gestützt und gefördert haben. Die Sexualisierungs-Lobby Pro-Familia, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Deutsche Aids-Hilfe und andere können stets auf großzügige Steuergelder hoffen. Auf diesen Umstand weist beispielsweise das sehr informative Buch von Frank Hauke ("Steuermißbrauch – Die rot-grüne Selbstbedienung", München 1996) hin.

Die 68er trifft an der Verharmlosung des Kindesmißbrauchs im übrigen ein gerütteltes Maß an Mitschuld. So hatte das linksradikale Frankfurter Wochenblatt Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten (ID) – eine Vorgängerin der taz und heute unter dem Namen Edition ID-Archiv bekannt als Verlag der gewalttätigen autonomen Szene – jahrelang von Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre eine überaus intensive Propaganda für Pädophilie betrieben. Im Gefängnis einsitzende Kinderschänder wurden zu politisch Verfolgten hochstilisiert. Sogenannte "Stadtindianer"-Kommunen propagierten "gewaltfreien", "freiwilligen" Kindersex und warben öffentlich in linken Medien oder auf grünen Parteitagen für ihr Anliegen. Für das "Recht auf freie Wahl von Eltern und Lebenspartnern" und "Volljährigkeit auf Verlangen" und für eine "tiefgreifende Neuregelung des Sexualstrafrechts" wurde 1978 in einer Kommune der "Stadtindianer", in der Päderasten mit Kindern im Alter von zum Teil unter acht Jahren zusammenlebten, gar ein Hungerstreik organisiert – publizistisch wohlwollend begleitet von vielen linken Medien wie dem ID. Unnötig zu erwähnen, wer sich da für wessen Interessen eingesetzt hat. Erst nach Jahren hat man diesen Auswüchsen etwas Einhalt geboten. Der dreisten Lüge von der "gewaltfreien Sexualität" zwischen Kindern und Erwachsenen hat man von links lange zugesehen und erst vor einigen wenigen Jahren die notwendige Antwort erteilt. Selbstkritische Fragen, warum das so gewesen ist, sind bis heute weitgehend unterblieben.

Unter "Freiheit der Kunst" lief eine im Jahre 1992 im linksliberalen Wiener Literatur-Verlag Deuticke herausgegebene moderne Erzählung von Urs Allemann, die die Vergewaltigung von Babys durch den Erzähler beschreibt. Tabubruch als Kunstform.

Noch einmal: Wieso fordert Frau Niehuis, wenn es um Abwehrmaßnahmen gegen die Kinderschändung geht, daß alles, aber nicht der herrschende sexuelle Liberalismus als Errungenschaft der 68er zur Diskussion gestellt werden darf? Ist die sexuelle Freizügigkeit ein neues Tabu geworden, das man nicht antasten darf und das die alten Tabus ersetzt hat? Wer hat denn für alle Ewigkeit die geschichtliche Notwendigkeit festgelegt, daß in Fragen der Sexualität die Richtung stets nur in immer größere Libertinage führen darf? Man glaubt offenbar an "Errungenschaften" der "sexuellen Revolution", die, wenn auch nur stückweise zurückgenommen, das gesamte Projekt in Frage stellen würden. Tatsächlich ist für die Linke seit den sechziger Jahren die sexuelle Freizügigkeit eines ihrer wichtigsten Dogmen. Denn die sexuelle revolution bedeutet für sie nicht nicht nur die Emanzipation des Individuums, sondern ist politisches Programm.

Die sexuelle Revolution ist ein Kernpunkt der utopischen Gesellschaftsmodelle der 68er. Schafft sie es nicht, die Gesellschaft zu sexualisieren, dann kann man das gesamte Projekt als gescheitert ansehen. Wenn man nicht die sexuelle Revolution akzeptiert, muß man die 68er-Bewegung als Ganzes ablehnen. Denn die sexuelle Revolution ist das Vehikel der 68er, die alte Utopie diverser marxistischer Schulen, durch eine Schwächung der Familie den totalitären Staat aufzubauen, um eine Gesellschaft auf der Basis von selbstverwalteten, familienlosen Kommunen zu errichten. Und selbst die Opfer, die geschändeten Kinder, dürfen kein Hindernis auf dem Weg zur Erreichung dieser Utopie sein.


 
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