© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/98 24. Juli / 31. Juli 1998

 
Ökumene: Evangelische und katholische Kirche streiten über die Rechtfertigungslehre
Die Differenz liegt im Grundsatz
von Klaus Motschmann

Von der Öffentlichkeit weithin unbeachtet, selbst in den Kirchen, haben evangelische und katholische Theologen im Auftrage des "Lutherischen Weltbundes" und des "Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen" 15 Jahre an einer "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" gearbeitet. Das Ziel dieser Verhandlungen ist eine Verständigung über die kirchentrennenden Aussagen zur "Rechtfertigung" des Menschen. Für die Lutheraner handelt es sich dabei um das Kernstück des christlichen Glaubens, als den "ersten und Hauptartikel", der zugleich "Lenker und Richter über alle Stücke christlicher Lehre" sei, mit dem die Kirche "steht und fällt". Kein Mensch könne durch eigene Leistung, weder durch "gute Werke" noch durch "Beten oder Fasten" und schon gar nicht durch den (zu Luthers Zeiten weitverbreiteten) Ablaß gerecht werden, sondern "allein durch den Glauben" (Römer 3, 28).

Auch für die katholische Kirche ist die Gnade Gottes ein wesentliches, "aber nicht das alleinige Kriterium für Leben und Praxis der Kirche". Das ewige Leben sei "sowohl Gnade als auch Lohn, der von Gott für die guten Werke und Verdienste erstattet wird".

Sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche haben ihr Selbstverständnis im wesentlichen an der unterschiedlichen Auffassung zu dieser theologischen Grundposition bestimmt und damit eine Tradition geprägt, die ein "Zurück" hinter die gegenseitigen Lehrverurteilungen für bekenntnistreue Lutheraner außerordentlich erschwert, für bekenntnistreue Katholiken geradezu unmöglich gemacht. Die offiziellen Stellungnahmen des Lutherischen Weltbundes vom 9. Juni, vor allem aber des Vatikans vom 25. Juni deuten hinreichend an, daß die gemeinsame Erklärung dieses Problem zwar benannt, aber nicht konsequent berücksichtigt hat und demzufolge zu Überzeugungen gelangt ist, die der Wirklichkeit in beiden Kirchen nicht entsprechen. Während der Rat des Lutherischen Weltbundes in Genf trotz erheblicher Bedenken und Widersprüche aus seinen 124 Mitgliedskirchen der ablehnenden Erklärung von 160 deutschen Theologieprofessoren den angestrebten Konsens erreicht wähnt und der Erklärung deshalb einstimmig zustimmte, werden in der Stellungsnahme des Vatikans erebliche Bedenken gegen diese Einschätzung formuliert. Es wird, völlig korrekt, festgestellt, "daß man nicht von einem so weitgehenden Konsens sprechen könne, der jede Differenz zwischen Katholiken und Lutheranern im Verständnis der Rechtfertigung ausräumen würde". Es wird nicht bestritten, daß es zwischen der katholischen und der evangelischen Auffassung zentraler biblischer Aussagen zahlreiche Konvergenzpunkte gibt – Konvergenz ist nicht Konsens! –, es wird aber erst recht nicht bestritten, daß einem vollen Konsens noch immer "größte Schwierigkeiten" entgegenstehen, die klar benannt werden. Der Vorsitzende des päpstlichen Einheitsrates, Kardinal Edward Cassidy, zeigt sich zwar überzeugt davon, daß auch der Vatikan trotz der gravierenden Einwände die Gemeinsame Erklärung im Herbst unterzeichnen werde, aber überzeugend wirkt seine Zuversicht nicht. Vor allem die Befürworter der Gemeinsamen Erklärung in beiden Kirchen sind sichtlich irritiert und enttäuscht.

Der Grund für diese Enttäuschung sollte allerdings weniger im Vatikan, sondern im eigenen Erwartungshorizont gesucht werden. Enttäuschungen resultieren in der Regel aus Täuschungen; Täuschungen wiederum aus einem reduzierten Wahrnehmungsvermögen der Wirklichkeit und Mißachtung von Erfahrungen der Geschichte. Zu erinnern ist zum Beispiel an die Unionsversuche im deutschen Protestantismus, insbesondere in Preußen seit 1817 (300. Jahrestag der Reformation), die immer wieder an den Gegensätzen von lutherischem und reformiertem Bekenntnis und Kirchenverständnis gescheitert sind, insbesondere in der Christologie, in der Abendmahls- und Prädestinationslehre. Sie haben bestenfalls wie in Preußen zur Verwaltungs-, nicht aber zu Bekenntnisunion geführt. Zu Recht hat der berühmte Staats- und Kirchenrechtler Friedrich Julius Stahl (1802–1861) bemerkt, daß derartige Konsens-Unionen immer nur zu einer "Bekenntnisverdünnung führen, zu einer Reduzierung der Fülle des christlichen Glaubens auf einen in der Regel sehr kleinen gemeinsamen Nenner, der zu Auseinandersetzungen mit den kirchen-und christentumsfeindlichen Mächten nicht ausreicht. Dies um so weniger, als der notwendige Kampf gegen die gemeinsamen Feinde gelähmt wird durch innerkirchliche innertheologische Auseinandersetzungen. Musterbeispiele lieferte der Kirchenkampf im Dritten Reich, der eben nicht nur zwischen den Kirchen und dem nationalsozialistischen Staat (und seinen Parteigängern in den Kirchen) geführt wurde, sondern auch zwischen reformierten und lutherischen Theologen. Er wirkte sich über den Zusammenbruch von 1945 aus und prägt bis heute das Erscheinungsbild des deutschen Protestantismus in seiner Orientierungslosigkeit und der damit zusammenhängenden Hilflosigkeit gegenüber den geistigen und politisch-ideologischen Herausforderungen unserer Zeit.

Dabei stellt sich die Frage, weshalb in bezug auf die katholische Kirche nach relativ kurzer Zeit gelingen soll, was im Verhältnis der lutherischen reformierten Kirchen unter dem Dach der Evangelischen Kirche in Deutschland bis heute nicht gelungen ist: nämlich einen Konsens in wesentlichen theologischen Grundsatzfragen zu erreichen? In diesem Sinne leistet die Gemeinsame Erklärung dann doch einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung konfessioneller Gegensätze, die ohnehin schon lange nicht mehr vertikal zwischen den Kirchen verlaufen, sondern horizontal zwischen den bekenntnistreuen, konservativen und den sogenannten progressiven Gruppen beider Kirchen verlaufen. Sie zwingt nämlich zur Besinnung auf die wesentlichen Elemente des gemeinsamen christlichen Glaubens als Antwort auf die Herausforderung einer immer rapider um sich greifenden multikulturellen Welteinheitsreligion. Die Kirchen- und die Profangeschichte lehren, daß diesen Herausforderungen nicht mit gemeinsamen Erklärungen, sondern nur durch gemeinsames Handeln in der Treue zum Bekenntnis der eigenen Kirche begegnet werden kann.


 
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