© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/98 07. August 1998

 
Pankraz, Gianni Versace und das Mitleid im Fernsehspiel

Die Karenzzeiten zwischen spektakulären Realereignissen und ihrer "künstlerischen Aufarbeitung" in Film und Fernsehen werden immer kürzer. Kaum ist jemand umgelegt oder mit seinem Porsche gegen einen Baum gefahren, bums, schon gibt es den Film oder das Fernsehspiel dazu. Lady Dianas Unfall, Gianni Versaces Ermordung, Bombenanschlag in Oklahoma: nicht nur die aktuellen Reporter "vor Ort" leben davon, sondern nicht minder die in ihren Studios lauernden Fiktionalisten und Virtualisten, die in Windeseile ein Drehbuch zusammenschmieren. Der Produzent drängelt im Hintergrund. Ihm kann es nicht schnell genug gehen.

Die frühere Standardformel in den Vorspännen: "Sämtliche Personen sind frei erfunden", liegt längst auf dem Müll. Niemand hat mehr Angst davor, in televisionäre Fiktion verwandelt zu werden, am wenigsten Mörder und Geiselgangster, die sofort nach ihrer Verhaftung – noch bevor sie ihren Strafverteidiger benannt haben – einen Anwalt mit der Wahrnehmung ihrer Film- und Fernsehrechte betrauen. Je gräßlicher der Vorfall, umso größer die Konkurrenz der "Rechteverwerter". Das treibt die Preise in die Höhe – und spornt zur Eile.

Pankraz fragt sich verwundert, weshalb die Rechteverwerter eigentlich so scharf auf Fiktion sind. Eine sogenannte "Dokumentation" tut es doch auch! Neulich bei RTL 2 wurden direkt hintereinander ein "Fernsehfilm" und eine "Dokumentation" zum Versace-Mord gezeigt. Die "Dokumentation " war besser.

Und noch bemerkenswerter: Zwischen "Fernsehfilm" und "Dokumentation" war faktisch, was den "Stil", die Machart betraf, nicht der geringste Unterschied. Hier wie dort die gleichen flapsigen, schlecht ausgeleuchteten Kamera-Einstellungen, die gleiche Minimal- bzw. Brutalsprache, die gleiche Uninteressiertheit an einer den Augenblick irgendwie übersteigenden, transzendierenden Deutung der Affäre. Einzig das Bild selbst war die Botschaft, hier wie dort.

Trotzdem haben die Fiktionalisierer wohl sehr viel mehr Honorar bekommen als die Dokumentaristen, und zwar aus Gründen der Tradition. Mag unsere Medienwelt geistig auch fatal heruntergekommen sein, sie hat doch noch einen gehörigen Respekt vor den "schönen Künsten", die zur Wirklichkeit etwas dazuerfinden, sie in Spiel verwandeln, ihr einen Horizont und Tiefenschärfe verschaffen. Die Drehbuch-Zusammenschmierer profitieren gewissermaßen immer noch vom Ruhme Shakespeares und Schillers.

Dabei haben sie mit Shakespeare oder Schiller nicht das geringste mehr zu tun und wissen das auch. Die modernen Produktionsbedingungen lassen wirkliche Fiktionalisierung gar nicht mehr zu. Es ist nicht nur das aus Konkurrenzdruck entstehende Tempo und der durch die Fülle der Kanäle notwendige Massenausstoß, die aufs Niveau der Dialoge und szenischen Arrangements drücken, sondern die Produzenten und das von ihnen angepeilte Publikum wollen gar keine "schöne Kunst" mehr, die sich von der Realität unterscheidet. Krudester Realismus ist angesagt, bloße Verdoppelung der Wirklichkeit, nicht Fiktionalisierung, sondern platte Übertragung ins elektronische Medium.

Die Elektronik mit ihren unzähligen Kanälen und ihrer scheinbar uneindämmbaren Penetranz ist nicht Vervielfältiger der Fiktion, sondern ihr Totmacher. Was man soeben in den 20-Uhr-Nachrichten als "Dokument" gesehen hat, das will man ab 20.15 Uhr gleich noch einmal sehen, diesmal als "Fernsehspiel". Alles soll um 20.15 Uhr genauso sein wie um 20 Uhr, nur die Effekte sollen greller herausgestellt werden: der Zoom auf der Blutlache, das "Scheiße-Scheiße"-Gestammel der Zeugen. Aber um Himmels willen nichts "Unrealistisches", Überrealistisches, echt Erfundenes! Das wäre höchstens was fürs Kinderprogramm.

Im erwachsenen Fernseh-"Spiel" dagegen herrscht harte, unverstellte Wirklichkeit. Spätestens nach fünf Minuten geht man miteinander ins Bett oder läßt sonstwie die Hosen herunter. Spätestens nach zehn Minuten setzt es den ersten Mord, oder der Doktor eröffnet einem, daß man Krebs oder Aids hat und nur noch sechs Monate zu leben hat. Spätestens nach zwanzig Minuten fliegt das erste Auto in die Luft, und der Kommissar nimmt die Ermittlungen auf.

Wenn in diesem "Nullmedium", so Hans-Magnus Enzensberger, wider Erwarten tatsächlich mal etwas Ungewöhnliches auftauche oder passiere, dann werde das vom Zuschauer lediglich als Bildstörung wahrgenommen, was dann sofort dazu führe, daß per Knopfdruck auf einen anderen Kanal umgeschaltet werde. Dies ist es ja auch, was die einzelnen Fernseh-"Spiele" so verwechselbar und gegeneinander austauschbar macht: Sie sind aus Konkurrenzgründen ungeheuer kompatibel, man versäumt nichts, wenn man zwischen ihnen herumzappt.

Die Gier nach Verfilmung spektakulärer Prominenten-Fälle, der Wettlauf der Produzenten nach Rechteverwertung entspringt keineswegs dem Ehrgeiz, sich von der Konkurrenz qualitativ abzuheben, es geht vielmehr immer nur darum, als erster das Zielband einer stets gleichen Wettlaufstrecke zu zerreißen, der Schnellste gewesen zu sein, der Cleverste, der Meistbietende. Daß man "fiktionalisiert" statt lediglich dokumentiert, mindert die Schnelligkeit natürlich etwas, ist aber nötig fürs Geschäft, bringt mehr ein, weil in den Augen der Produzenten und Konsumenten eine Sache eben erst dann "wirklich wirklich" geworden ist, wenn man sie ausdrücklich ins Grelle und Ordinäre hineingeschoben hat.

Die beiden hintereinander gesendeten Filme über Gianni Versace zeigten das deutlich. Die Dokumentation war, wie gesagt, besser als das Fernsehspiel, man lernte mehr über den Modemann, verspürte sogar ein bißchen Mitleid mit ihm. Aber das Fernsehspiel war greller, bunter, alberner. Und warum sollte man hier mit Versace Mitleid haben? Er war doch nur "gespielt". Spiele machen mitleidlos.


 
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