© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/98 14. August 1998


Geschichte einer Fahnenflucht: Der Bau der Berliner Mauer veränderte das Leben von Conrad Schumann
Ein Held, der keiner sein wollte
von Kai Guleikoff

Der Jahrestag der Errichtung der Berliner Mauer und der Verwandlung der Grenze zwischen Mittel- und Westdeutschland in eine Frontlinie gehört zu den Gedenktagen der Geschichte. Einer der Kronzeugen des Jahres 1961 wurde am 24. Juni dieses Jahres im bayerischen Oberemmendorf beerdigt. Der in der Boulevardpresse gefeierte "berühmteste Mauerflüchtling" wählte am 20. Juni mit 56 Lebensjahren den Freitod. Der ehemalige Unteroffizier der Bereitschaftspolizei der DDR Conrad Schumann war am 15. August 1961 über den Stacheldraht aus dem sowjetischen Sektor in den französischen Besatzungsteil Berlins gesprungen. Dieser Vorgang wurde in einem Film und auf Fotos festgehalten. Das Bild des Hamburger Fotografen Peter Leibing ging durch die Weltpresse und wurde sogar Grundlage für eine Münzprägung und eine Briefmarke. Leibing avancierte bis in die Chefetage des Hamburger Abendblattes, Schumann dagegen geriet fast in Vergessenheit.

Wer war Schumann und wie ist er in der Geschichte des 20. Jahrhunderts als "Prominenter" aufgenommen worden?

Conrad Schumann, geboren in Sachsen, in Leutewitz bei Riesa, zwischen Dresden und Leipzig, geregelte Schulbildung und Lehre als Schäfer im Staatsgut Leutewitz, gilt als ein unauffälliger junger Mann, der sich loyal dem politischen System der DDR gegenüber verhält. Deshalb ist es nicht ungewöhnlich, daß Genossen der SED ihn fragen, ob er als Freiwilliger in die "bewaffneten Organe" eintreten möchte. Ende der 50er Jahre wagt der SED-Staat noch nicht, bei offenen Grenzen die allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Dafür wird ein System der Freiwilligenwerbung installiert aus einer Kombination von Versprechungen und "sanftem Zwang". Jeder Betrieb hat eine Quote zu erfüllen, die Bestandteil des sozialistischen Wettbewerbes ist. Die Werbung für Armee und Polizei hat für Jugendliche in dieser Zeit durchaus attraktive Seiten. Die Verpflegung in den Kasernen und die Bezahlung sind besser und höher als in vielen Betrieben und Einrichtungen der DDR. Für Conrad Schumann wird nach dem Eignungsgespräch eine Laufbahn in der Bereitschaftspolizei (Bepo) durch das Wehrkreiskommando Riesa festgelegt.

Ein unauffälliger und fleißiger junger Mann

Die Bereitschaftspolizei der DDR wurde nach dem Vorbild der sowjetischen "Inneren Truppen" organisiert und ging Ende 1954 aus den Wachverbänden des Staatssekretariats für Staatssicherheit (SfS) hervor. Bis zum 1. Oktober 1956 trugen sie sogar die sowjetische Bezeichnung "Innere Truppen". Als Conrad Schumann die Uniform anzieht, gehört die Bepo bereits zum Ministerium des Innern, also zur Volkspolizei. Trotzdem gilt die Bereitschaftspolizei im Verständnis der SED kaderpolitisch als "auserlesen und parteipolitisch sorgfältig geschult". Sie ist wie die sowjetische Staatssicherheitstruppe zur Niederhaltung der Bevölkerung und zur Unterdrückung von Volkserhebungen bestimmt.

Der Polizeianwärter Schumann absolviert mit Erfolg eine dreimonatige Grundausbildung in Dresden und wird zur Unteroffiziersschule nach Potsdam delegiert. Der Unterführermangel jener Zeit zwingt zu einer Kurzausbildung von drei Monaten zum Unteroffizier. Danach wieder bei seiner Einheit in Dresden, erhält Schumann durchweg gute dienstliche Beurteilungen. Der nächste Karrieresprung zeichnet sich ab, als Anfang August 1961 Freiwillige für den Dienst in der "Hauptstadt der DDR" gesucht werden. Auch hier wird der Versetzungsantrag Conrad Schumanns nach Berlin genehmigt. Inwieweit der "Fluchtgedanke" in ihm schon gereift ist, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls gilt es als "hohe Auszeichnung", als Nichtberliner Arbeit und Wohnsitz dort zu erhalten. Berlin ist noch eine offene Stadt, in der täglich 53.000 Ost-Berliner und 13.000 West-Berliner zur Arbeit die Sektorengrenzen überqueren.

In der Anspannung
der "Berlin-Krise"

Allein aus dem Ost-Berliner Stadtbezirk Pankow arbeiteten 6.000 Bürger bei West-Berliner Firmen. Natürlich waren auch die Angehörigen der bewaffneten Organe "anfällig gegen die Verlockungen des Westens" und wurden deshalb in Berlin politisch besonders überwacht. Kleinste Verfehlungen wurden mit Abversetzung geahndet. Seit November 1958 gab es eine permanente "Berlin-Krise". Mit einer Note vom 27. November 1958 kündigte die Sowjetunion das Besatzungsstatut Berlins. Innerhalb der Frist von einem halben Jahr sollte West-Berlin den Status einer "entmilitarisierten Freien Stadt" erhalten. Die bewaffneten Organe der DDR sollten die Zugangskontrolle für alliiertes Personal übernehmen. Im Frühjahr 1961 wurden diese Forderungen wiederholt, durch das Zugeständnis der "symbolhaften Anwesenheit von Streitkräften aller vier Mächte" jedoch deutlich entschärft. Die Lage in und um Berlin war gespannt, Rangeleien an den Sektorengrenzen und der Demarkationslinie waren alltäglich. Die Überlebenschancen der DDR schwanden von Monat zu Monat. Allein 1961 flohen 207.026 DDR-Bürger nach Westdeutschland, im Zeitraum von 1950 bis 1960 waren es über 2,4 Millionen gewesen. Gerüchte über das "Dichtmachen" der Grenze hielten sich bereits Monate vor dem 13. August 1961. Die Ungewißheit eines daraus entstehenden Krieges erzeugte die Nervosität, die oft Zwischenfälle von beiden Seiten auslöste. Betuchte West-Berliner siedelten nach Westdeutschland über. In West-Berlin entstand Arbeitskräftemangel.

Die Anspannung lastet auch auf Unteroffizier Schumann und seinen Kameraden. Ihre Anwesenheit wird auch von Teilen der Ost-Berliner nicht freundlich aufgenommen.

Der Tag X kam in der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961, einem Wochenende. So gewählt, um möglichst ungestört die Grenze abzuriegeln. Am 12. August, einem Sonnabend, wurden die hierfür bestimmten Kräfte in eine "höhere Stufe der Gefechtsbereitschaft" versetzt und begannen ihren Nachtmarsch in die Konzentrierungsräume in und um Berlin. Scharfe Munition wurde mitgeführt, jedoch nur an Offiziere und Wachen ausgegeben. Am 13. August, 0 Uhr, wurde diese Stufe der Gefechtsbereitschaft auf alle bewaffneten Organe der DDR und der sowjetischen Besatzungstruppen ausgedehnt. Die Minister der DDR-Regierung hatten auf die Befehle des Nationalen Verteidigungsrates zu hören. Den militärischen Oberbefehl übernahm Marschall der Sowjetunion Iwan S. Konew, zweifacher Held der Sowjetunion und aus dem Zweiten Weltkrieg als rücksichtsloser Feldherr bekannt – und im Westen als solcher respektiert.

Auch Unteroffizier Conrad Schumann verbringt diese Nacht schlaflos und in tiefer innerer Erregung. Um 23 Uhr gellen die Signalpfeifen der Unteroffiziere vom Dienst und der Ruf "Gefechtsalarm" durch die Flure seiner Kaserne in Ost-Berlin. Der tags zuvor auf dem Kasernengelände gelagerte Stacheldraht ist bereits durch Pioniereinheiten auf Lkws verladen worden und zu den Sperrabschnitten unterwegs. Vor dem Verlassen der Kaserne erfolgt eine fünfminütige Belehrung zum unmittelbaren Verhalten im Einsatzraum. Über den Gebrauch der Schußwaffe wird nichts gesagt. Die Gruppe Schumann gehört jetzt zu den Kräften der ab Juni 1961 formierten zwei Grenzbrigaden (B) der Bereitschaftspolizei, die aus Kräften der bisherigen Grenzpolizei und der Bereitschaftspolizei gebildet worden sind. Sie haben die Aufgabe, West-Berlin abzuriegeln. Erst am 23. August 1961, als die sowjetische Kommandantur im Sowjetsektor Berlins durch die Stadtkommandantur der NVA ersetzt wird, treten diese zwei Brigaden in die Struktur des "Kommandos Grenze" der NVA. Die NVA hält sich in den Tagen des Mauerbaues befehlsmäßig zurück, um nicht in Konfrontation mit den westalliierten Besatzungstruppen zu geraten.

Unteroffizier Schumann soll mit seinen Kameraden ursprünglich zur Abriegelung des Brandenburger Tores eingesetzt werden. Dort werden sie jedoch vorbeigewinkt und zur Bernauer Straße weitergeleitet. Entlang der Linie zum französischen Sektor sind die Straßen und freien Flächen zwischen den Häusern mit S-Rollen aus Stacheldraht mehr symbolisch gesperrt. Die kaum kniehohen Drahthindernisse stellen noch kein wirksames Hindernis dar. Natürlich ist die Errichtung einer Mauer auch in diesem Abschnitt geplant. Der Befehl lautete, Posten zu beziehen und den Abschnitt gegen unberechtigtes Eindringen und Verlassen durch Personen und Fahrzeuge zu sichern. Die Nacht geht ohne Zwischenfälle zu Ende. Sonntag vormittags bilden sich Menschengruppen, die zunehmend unfreundlich bis feindselig ihren Unmut an den Posten auslassen. Französische Panzerspähwagen tauchen auf, die Westberliner Polizei erscheint mit umgehängtem Gewehr, und die Presse bringt ihre Kameras in Position. Es beginnt ein Nervenkrieg, auf den Unterofftzier Conrad Schumann und seinesgleichen nicht vorbereitet sind. Die platten Thesen aus dem Politunterricht sind hier nicht anwendbar. Bis zu 100 Zivilisten, darunter viele Jugendliche, stehen als "Gegner" gegenüber und verlangen Erklärungen. Hilfe von der eigenen Seite gibt es kaum. Selbst die Offiziere werden nervös, die Eröffnung eines Schußwechsels kann jederzeit erfolgen. Jeder ist mit sich selbst allein.

Am Dienstag, dem 15. August 1961, stand Unteroffizier Schumann als Sicherungsposten an der Bernauer Straße, Ecke Ruppiner Straße. Der Fotograf des berühmten Fotos, Peter Leibing, damals zwanzigjähriger Volontär der Hamburger Fotoagentur Conti-Press, hat später berichtet: "Ich hatte ihn schon mehr als eine Stunde im Visier. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, der springt. Das war wie ein Reflex. Ich habe das beim Derby gelernt: Da muß man die Pferde im Sprung fotografieren. Und dann kam er. Ich drückte auf den Auslöser und schon war alles vorbei."

Das "Komm-rüber!" dröhnt unter dem Stahlhelm

Conrad Schumann ist psychisch fix und fertig. In den Tagen höchster Anspannung ist er zum Kettenraucher geworden. Die dauernden Rufe: "Komm rüber, komm rüber!", dröhnen wie Glockengeläut unter dem Stahlhelm. Das Abwerfen seiner fünf Kilogramm schweren Maschinenpistole dürfte mehr ein Symbol gewesen sein, sich von einer zentnerschweren Last der Verantwortung zu befreien. In der Ausbildung ist er hunderte Male mit der Waffe in der Hand über weit höhere Hindernisse gesprungen. Die Westberliner Polizei hat ein geschlossenes Fahrzeug mit geöffneter Hecktür bereitgestellt. Rufe und Winken, Schumann springt in das Auto. Minutensache. Auf dem Polizeirevier Swinemünder Straße die erste Zigarette danach. Auf dem dort gemachten Foto sieht der Neunzehnjährige um Jahre gealtert aus.

Nach den Verhören bei den Geheimdiensten atmete Schumann erst richtig auf, als er Berlin in einer alliierten Militärmaschine Richtung Westdeutschland verlassen durfte. Diesen Verfolgungsdruck scheint Schumann auch nie losgeworden zu sein. Fahnenflucht bei Ausübung einer "Gefechtsaufgabe" galt als sehr schwere Militärstraftat und konnte –auch in Abwesenheit – mit dem Tode bestraft werden.

Die weitere Geschichte des Conrad Schumann ist schnell erzählt. Kurz nach seiner Anerkennung als Flüchtling lernte er seine Frau Kunigunde in Günzburg kennen. Dort arbeitete er auch ein halbes Jahr als Krankenpfleger, anschließend sieben einhalb Jahre in einer Weinkellerei in Grombach. Nach dem Umzug in das Haus seiner Schwiegereltern im Weiler Oberemmendorf bei Kipfenberg arbeitete er am Band der Audi-Werke im nicht weit entfernten Ingolstadt, zuletzt als Kopierdreher.

Nach dem Fall der Mauer kamen die alten Ängste wieder verstärkt hoch. Längere Zeit zögerte er sogar, die 28 Jahre lang nicht gesehenen Eltern und Geschwister in Sachsen zu besuchen. Er mußte auch feststellen, daß seine ehemaligen Vorgesetzten mit viel weniger Herzklopfen nach Bayern fuhren als er in seinen Geburtsort. Manche Kameraden von damals zeigten ihm, daß er sich mit seiner Flucht aus ihrem Kreis auf Dauer ausgeschlossen hatte. Ein Zurück gab es für Conrad Schumann nicht. "Meine Heimat ist Bayern", sagte er immer wieder – aber nicht ganz überzeugend. Sein Lieblingsplatz war die freie Natur. Dort setzte er seinem Leben auch selbst ein Ende, im Obstgarten des Hauses. Wer jetzt nach Berlin kommt, sollte in die Bernauer Straße gehen und eine Blume niederlegen.


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