© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/98 14. August 1998


Gefahrenpotentiale: Rußlands Rüstungsindustrie steckt in der Krise
Der Staat ist Bankrott
von Friedrich-W. Schlomann (DOD)  

Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat mit seinen neuerlichen Krediten für Moskau die Grenzen seiner Belastbarkeit erreicht. Er wird dabei auf Reserven zurückgreifen müssen, bei denen der deutsche Anteil etwa 2,1 Milliarden DM ausmacht. Hiervon abgesehen haben die Forderungen deutscher Banken gegenüber der Russischen Föderation mittlerweile die Höhe von 50,5 Milliarden DM erreicht; die geleisteten Zahlungen der Bundesrepublik Deutschland sowie eingegangene Verpflichtungen belaufen sich für die Zeit von Ende 1989 bis einschließlich 1997 auf insgesamt 133,1 Milliarden DM, und Skeptiker stellen sich nun die Frage, ob die Deutschen demnächst noch einmal verstärkt zur Kasse gebeten werden.

Zuletzt hat sich die wirtschaftliche Lage Rußlands noch einmal verschärft: Barg schon der Streik der Bergarbeiter etliche Gefahren für den Kreml, so ist während der vergangenen Wochen auch die Rüstungsindustrie in eine tiefe Krise geraten, jener Wirtschaftskomplex also, der mit seinen Waffenexporten für Moskau stets ein besonders wertvoller Devisenbringer gewesen ist. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurde in den Rüstungsbetrieben allerdings sehr viel Personal entlassen: Während es 1994 dort immerhin noch 7,5 Millionen Arbeitskräfte waren, belief sich die Zahl Ende 1995 auf nur mehr drei Millionen, und inzwischen dürfte diese Beschäftigtenzahl noch weiter dezimiert worden sein.

90 Milliarden Rubel Schulden an den Staat

Neuen Äußerungen des stellvertretenden russischen Verteidigungsministers Michajlow zufolge schuldet der Staat den Betrieben der Rüstungsindustrie über 15 Milliarden Rubel; deren Verbindlichkeiten gegenüber dem Staat betragen danach indes etwa 90 Milliarden Rubel. Die bisher nicht ausgezahlten Löhne an die Arbeiter und Angestellten in den entsprechenden Fabriken wurden im April dieses Jahres auf 4,5 Milliarden Rubel geschätzt; nach den Mitteilungen Michajlows von Anfang Juli sollen es "nur" noch 2,3 Milliarden Rubel sein. Ihre Auszahlung werde, so wurde erneut versprochen, "in naher Zukunft" erfolgen.

Bereits Mitte Mai dieses Jahres kam es auf der Nerpa-Werft in der Region Murmansk zu einem Hungerstreik angesichts der ausbleibenden Lohnzahlungen, die hier zuletzt vor acht Monaten erfolgten.

Das Moskauer Verteidigungsministerium selber schuldet der Nerpa seit langem 74 Millionen Rubel für die Reparatur von Nuklear-Unterseeboten.

Anfang Juni schrieben die Leiter von 55 Rüstungsbetrieben aus dem Gebiet Swerdlowsk einen offenen Brief an Präsident Jelzin und die Regierung, in dem sie eine "breit gefächerte Protest-Aktion" ankündigten. Seit 1996 habe Moskau diesen militär-industriellen Komplex im Zentral-Ural nicht bezahlt, und die Auszahlung der Löhne würde zwischen fünf und 14 Monaten lang hinausgezögert. Wörtlich ließ man verlautbaren: "Es herrscht eine Angst, daß nicht nur die russische Armee nicht die nötige Bewaffnung erhält und nationale Sicherheitsinteressen leiden werden, sondern daß auch manche Waffenmärkte im Ausland angesichts dieser Politik verlorengehen."

Im Juni trafen sich zum ersten Mal die Direktoren der 150 größten Rüstungsbetriebe mit Spezialisten der Sicherheitsbehörden, um ebenfalls die Lage zu erörtern – denn, wie es hieß, die Arbeiter seien "zum zivilen Ungehorsam" bereit. Und am 6. Juli begann in Nischnij Nowgorod ein großer Protestmarsch von Arbeitern und Angestellten der Rüstungsindustrie nach Moskau. Einige von ihnen hatten seit zwei Jahren keine Löhne und Gehälter mehr gesehen. Zwei Tage später demonstrierten rund 1.500 Rüstungsarbeiter aus über 20 Städten Rußlands in der Hauptstadt vor dem Gebäude des Verteidigungsministeriums. Folgt man den Presseberichten, so hatten manche von ihnen "fast drei Jahre keine Löhne mehr bekommen".

Die Forderungen der Rüstungsarbeiter nach einem Rücktritt Jelzins sind jedenfalls lauter und schriller geworden. Auch ist die Veränderung der "Demokratie" kein seltenes Verlangen mehr; man ruft nach einem "Retter" – einer starken Hand. Eine Moskauer Fernsehsendung endete mit der ernstzunehmenden Drohung: "Die Kundgebungs-Teilnehmer glauben, daß, wenn sich die Lage in der Rüstungsindustrie in den nächsten zwei Monaten nicht ändern sollte, die Menschen im Herbst auf die Barrikaden gehen."

Auch in St. Petersburg demonstrierten am 8. Juli empörte Beschäftigte der Rüstungsindustrie. Annähernd 250.000 von ihnen haben dort seit langem ihren vollständigen Lohn nicht mehr erhalten. Und am selben Tag stoppte die Werft in Komsomolsk-na-Amure im Hinblick auf die chronisch verzögerten Gehaltsauszahlungen mit Unterstützung von 3.600 Arbeitern demonstrativ den Bau zweier nuklear-betriebener Unterseeboote.

Die Rufe nach der starken Hand werden immer lauter

Angesichts der allgemein miserablen Situation im heutigen Rußland sollte man all diese Aktionen vielleicht nicht überbewerten, andererseits hat am 10. Juli der russische Föderationsrat eine Erklärung angenommen, mit der Präsident Jelzin aufgefordert wird, "dringend Maßnahmen zu ergreifen, um den Kollaps der Verteidigungsindustrie zu verhindern. (…) Die Verteidigungsindustrie geht durch eine schwere Krise. Nur zehn Prozent der Anweisungen seitens der Regierung zur Produktion von Waffen für die nächsten sechs Monate dieses Jahres sind finanziert. (…) Rund 400 Verteidigungs-Betriebe sind gegenwärtig insolvent."

Nur drei Tage später kam es dann zu einem Treffen zwischen Jelzin und dem Generaldirektor des staatlichen Waffenexport-Unternehmens. Wie der Pressedienst des Präsidenten wortkarg mitteilte, erörterte man insbesondere auch "Maßnahmen, die Waffenexporte zu steigern". Damit aber steht es alles andere als gut: Ein großes Waffengeschäft in Höhe von umgerechnet rund 700 Millionen US-Dollars mit Indonesien zerschlug sich angesichts der dortigen katastrophalen Finanzkrise. Von der Türkei hatte sich Moskau für die nächsten Jahre Lieferverträge über K-50-Hubschrauber in einem Umfang von alles in allem 3,5 Milliarden Dollars erhofft; nach dem Absturz der Test-Maschine ist auch dieses Abkommen in Frage gestellt.

Hatte man vor wenigen Jahren noch getönt, im Jahre 2000 für zehn Milliarden Dollar Kriegsmaterial ins Ausland zu verkaufen und damit wieder der weltweit größte Waffen-Exporteur zu sein, hörte man kürzlich, mehr als drei Milliarden pro Jahr seien nicht zu erwarten – und angesichts der jetzigen Lage der russischen Rüstungsindustrie wird diese Einnahmequelle zwangsläufig noch weniger sprudeln. Der jetzige Kredit verschafft dem Kreml lediglich eine Atempause, er wird aber sicherlich nicht die erforderlichen Struktur-Probleme lösen können.


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