© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/98 14. August 1998


Die Dunkle Seite
von Karlheinz Weissmann 

Vor einem halben Jahr, bei Erscheinen der französischen Ausgabe, wurde die Meinung vertreten, das "Schwarzbuch des Kommunismus" werde zu einer gründlichen Neubewertung der linksautoritären Bewegungen führen und sicherlich auch zu einer sachlicheren Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Untaten beitragen. Der Verfasser hat diese Einschätzung eher mit Skepsis aufgenommen, und er fühlt sich in seiner Skepsis bestätigt, obwohl das "Schwarzbuch" ein außerordentlicher publizistischer Erfolg ist. Von dem zuerst auf Französisch veröffentlichten "Livre noir du communisme" fanden in kurzer Zeit 150.000 Exemplare einen Käufer, bei der italienischen Übersetzung waren es mit 120.000 Stück fast genauso viele. Schon im vergangenen Herbst wurde die französische Debatte in der Bundesrepublik verfolgt und kommentiert, jetzt liegt das "Schwarzbuch" in deutscher Sprache vor und erreichte in wenigen Wochen vier Auflagen; bei der Bild-Zeitung, wo man eher selten von intellektuellen Fragen Notiz nimmt, wurde das Ganze für so wichtig gehalten, daß die Redaktion Auszüge in einer mehrteiligen Reihe drucken ließ.

Das "Schwarzbuch" soll keine Geschichte des Kommunismus bieten, seine Beiträge konzentrieren sich ganz bewußt auf die dunkle Seite der kommunistischen Regime. Von künstlichen Hungersnöten über die systematische "Vernichtung durch Arbeit" bis hin zur Massenerschießung, vom sorgfältig geplanten Attentat auf einzelne Gegner über die justizförmige Ermordung nach den Schauprozessen bis zu den Folterungen mit Todesfolge durch einzelne Sadisten werden hier Szenen des Schreckens ausgebreitet. Erledigt sind nach der Lektüre alle Beschwichtigungs- und Rechtfertigungsversuche der Vergangenheit: von der Behauptung, es habe sich um regellose Ausschreitungen, um die Folge von Bürgerkriegskämpfen oder – im Fall des von Stalin gegen die Bauern allgemein und die Ukrainer im besonderen gerichteten Entzugs aller Lebensmittel – um die Folgen von Naturkatastrophen gehandelt. Als Bilanz steht fest, daß Kommunisten in mehr als siebzig Jahren aus ideologischen Gründen zwischen fünfundsechzig und hundert Millionen Menschen beseitigt haben, um ihre Utopie einer klassenlosen Gesellschaft zu verwirklichen. In einer Tscheka-Zeitschrift vom August 1919 hieß es schon ausdrücklich: "Die alten Systeme der Moral und der ‘Menschlichkeit’ lehnen wir ab. Sie wurden von der Bourgeoisie erfunden, um die ‘unteren Klassen’ unterdrücken und ausbeuten zu können. Unsere Moral ist ohne Vorbild, und unsere Menschlichkeit absolut, denn sie basiert auf einem neuen Ideal: jegliche Form von Unterdrückung und Gewalt zu zerstören. Uns ist alles erlaubt, denn wir sind die Ersten in der Welt, die das Schwert nicht zur Unterdrückung und Versklavung erheben, sondern um die Menschheit von ihren Ketten zu befreien … Blut? Mag es in Strömen fließen!"

Daß die Zahlen und die Begleitumstände des Massenmords von keinem ernstzunehmenden Kritiker bestritten werden, gehört vielleicht zu den interessantesten Kennzeichen der Auseinandersetzung um das "Schwarzbuch". Es gab wohl geschmacklose Formulierungen – etwa: "Nekrophiler Antikommunismus" und "Antikommunismus mit dem Taschenrechner" (beide Wolfgang Wippermann) –, aber über solche Appelle an die Ressentiments der Unbelehrbaren ging niemand hinaus. Selbst bei den "Autonomen", die in Berlin eine öffentliche Diskussion über das "Schwarzbuch" nachhaltig störten, fehlte der Vorwurf der "Fälschung", und ein wichtiger Indikator für die defensive Linie, zu der die extreme Linke gezwungen wurde, ist auch, daß sich die französische KP, die stärkste unter den verbliebenen kommunistischen Parteien, bei der Gelegenheit nicht nur von den Methoden Stalins, sondern auch gleich von dessen Statthalter in Paris, dem unlängt verstorbenen Georges Marchais, distanzierte. Diese Position unterscheidet sich deutlich von der nichtkommunistischen Linken. Wenige gehen in ihrer Solidarität noch so weit wie der französische Premier Lionel Jospin, der vor der Nationalversammlung die Anschauung vertrat, daß die Kommunisten des Landes nicht nur ganz selbstverständlich ins "Kartell der Linken" gehörten, sondern überhaupt "niemals die Hand gegen die Freiheit erhoben" hätten; typischer ist die Auffassung, das "Schwarzbuch" biete der Linken nichts, "was sie nicht schon vorher wußte" (Rudolf Walther).

Dem ist entgegenzustellen, daß das von Stéphane Courtois und seinen Mitarbeitern ausgebreitete Material tatsächlich das Ausmaß des "roten Holocaust" vielen zum ersten Mal ins Bewußtsein gerückt hat. Aber dieser jetzt in der Diskussion aufgetauchte Begriff macht auch deutlich, daß die Beschäftigung mit den Opfern des "braunen Holocaust" steht. Courtois selbst hat betont, daß seiner Meinung nach die "moralische Einzigartigkeit" der "Endlösung" der "Judenfrage" nicht mehr behauptet werden könne: im Grundsatz bestehe zwischen GULag und KZ-System keine Differenz, Ernst Noltes Überlegung, ob Hitler den Bolschewismus "imitiert" habe, erscheint durchaus plausibel. Diese Ansicht löste sogar unter den Mitarbeitern des "Schwarzbuches" Widerspruch aus. Einen Widerspruch, der zwar kaum inhaltlich begründet wurde, aber nachvollziehbar erscheint. Nachvollziehbar, weil lange trainierte Denkgewohnheiten nicht plötzlich aufgegeben werden können, nachvollziehbar auch, weil kaum jemand das "Vergleichbarkeits"-Tabu berühren möchte, das infolge des "Historikerstreits" besteht, und nachvollziehbar schließlich, weil hier ein Konflikt lauert, der, zum Austrag gekommen, vieles infragestellen würde, was an Selbstverständlichkeiten den heutigen politischen "Diskurs" bestimmt.

Erste Selbstverständlichkeit: Man darf Kommunismus und Nationalsozialismus nicht auf eine Stufe stellen, die Ähnlichkeit der von ihnen begründeten Regime ist zweitrangig, es geht um die ideologische Grundlage, und die war bei beiden prinzipiell und qualitativ verschieden, denn der Kommunismus ist an seinem Ursprung aufklärerisch und menschenfreundlich, der Nationalsozialismus von Anfang an antiaufklärerisch und menschenverachtend.

Diese Auffassung hat seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine bemerkenswerte Karriere gemacht. Solange man in Mittel- und Westeuropa noch vor Augen oder gut in Erinnerung hatte, was der Einmarsch der Roten Armee und die Errichtung des sowjetischen Protektorats bedeutete, konnte die Argumentation bei niemandem – abgesehen von Mitgliedern kommunistischer Parteien oder politischen Narren – verfangen. Das änderte sich seit der Abschwächung des "Kalten Krieges" Anfang der sechziger Jahre, und im Zusammenhang der folgenden "Kulturrevolution" wurde vor allem in der kritischen Intelligenz die Auffassung Mode, daß es gar nicht um den Konflikt Freiheit – Unfreiheit gehe, sondern um den Konflikt progressive Kräfte – reaktionäre Kräfte. Man entdeckte nicht nur die Identität der bürgerlichen Demokratie mit dem Faschismus, sondern auch die Gemeinsamkeit aller fortschrittlich Denkenden – Kommunisten und Halbkommunisten und Nichtkommunisten –, die sich einig waren in ihrem "Antifaschismus" und in dem Bewußtsein, das Erbe der zukunftweisenden Kräfte der Geschichte anzutreten. Begleitet von der sozialliberalen Ostpolitik und dem Linksruck in der Gesellschaft konnte sich diese Auffassung in Westdeutschland nicht nur Gehör verschaffen, sondern bis zum Ende der achtziger Jahre weitgehend durchsetzen, Schulbücher und wissenschaftliche Darstellungen, politische Verlautbarungenund theologische Stellungnahmen zeugen davon. Erhard Eppler kritisierte noch 1989, daß die "Totalitarismustheorie das Verhältnis zur Sowjetunion vergiftet" habe durch die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus, und immer habe der "humanistische Pfahl im Fleisch des Kommunismus" existiert, jener unverlierbare Kern großer Menschheitshoffnungen, der durch keine Praxis – Lenins, Stalins, Chruschtschows, Breschnews, Andropows – zerstört werden konnte. Solche Äußerungen wären heute wohl nicht mehr möglich, aber die Unbußfertigkeit ihrer Vertreter und deren Leidenschaft, die eigenen Überzeugungen von gestern umzuinterpretieren, bleibt atemberaubend. Noch in den Begründungen linker Sozialdemokraten für ein Zusammengehen mit der PDS und in dem Konzept der "Erfurter Erklärung" wirkt etwas nach von den alten Illusionen.

Zweite Selbstverständlichkeit: Jede Kritik des Kommunismus ist eine Kritik der Linken, jede Kritik der Linken kommt der Rechten zugute. Das darf nicht sein: denn links ist gut und rechts ist böse!

Unmittelbar nach Erscheinen des "Schwarzbuchs" nahm der Führer der französischen Rechtspartei Front National, Le Pen, in einem Fernsehinterview darauf Bezug und fragte, wieso man ihn und seine Anhänger zu politischen Parias erkläre, aber die Komunisten an der Regierungskoalition beteiligt seien, ohne daß das irgendjemanden interessiere oder gar moralische Aufregung auslöse. Das war eine sehr berechtigte Frage, aber selbstverständlich hat niemand eine Antwort gegeben. Ganz im Gegenteil. Allein Le Pens Rekurs auf das "Schwarzbuch" diskreditierte den Band und seine Ergebnisse in den Augen vieler Politiker und Journalisten, und wieder andere verhehlten nur schlecht, daß ihnen die Opfer des Kommunismus als solche vollkommen gleichgültig sind, daß sie ihre Existenz allerdings störend finden, weil die den "Rechten" die Möglichkeit gibt, ein schwer widerlegbares Argument gegen die "Linken" zu benutzen. Dem ist nur mit der "Faschismus-Keule" (Hans-Helmuth Knütter) zu begegnen, das heißt, die Einwände gehen nicht mehr gegen die Sache, sondern gegen die vermuteten Hinterabsichten: wer die Linke attackiert, ist entweder ein Rechter, von den Rechten gekauft oder ein "nützlicher Idiot" der Rechten, tendenziell sind alle Rechten Faschisten, und Faschisten sind böse Menschen, während ein Kommunist natürlich nur ein guter Mensch sein kann. In Deutschland wurde diese Argumentation sofort übernommen.


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