© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/98 14. August 1998


Pankraz, Helmut Kohl und das Taxi am Tag des Orakels

Darüber herrscht mittlerweile Einigkeit: Das Niveau des "Wahlkampfs", den wir diesmal haben, unterbietet alle vorausgegangenen, sowohl was die Parolen als auch was die Personnagen und die von ihnen bestrittenen Kampagnen betrifft. Niemand erfährt auch nur in Ansätzen, was er wählt, wenn er demnächst wählt. Der Gang in die Wahlkabine gleicht dem Griff in die Lostrommel, in der es von Nieten wimmelt und ein Treffer der pure Zufall wäre. Pankraz fragt sich ernstlich, ob man angesichts der Lage nicht besser zu den Wahlpraktiken der ältesten Demokratie der Welt, der des klassischen Athens, zurückkehren sollte, wo die Amtsträger per Los ermittelt wurden. 

Die alten Athener waren zwar leidenschaftliche Debattenredner in der Volksversammlung, sahen aber vielleicht gerade deshalb sehr scharf den Unterschied zwischen politischer Rede und politischer Praxis. Eine eindrucksvolle Suada garantierte in ihren Augen noch lange nicht einen guten Amtsverwalter. Sie diente lediglich dazu, allen Polis-Teilnehmern die aktuelle Problemlage deutlich zu machen, qualifizierte den, der sie losließ, keineswegs von vornherein für ein Amt, im Gegenteil, Mißtrauen ihm gegenüber war angebracht. Denn er konnte ja lügen, indem er das Richtige sagte. So ließ man denn das Los entscheiden.

Dieses Verfahren beruhte freilich auf zwei Voraussetzungen. Erstens gingen die Athener davon aus, daß jeder freie, sich für Politik interessierende Bürger, ob er nun Lügner war oder nicht, grundsätzlich politikfähig war, über "phrónesis" verfügte, Lebensklugheit, praktischen Sinn. Zweitens gingen sie davon aus, daß im politischen Geschäft auch die Götter mitmischten, die "objektiven Notwendigkeiten", wie wir heute sagen würden. Das Los sollte eben die Götter ins Spiel bringen. Es war beileibe kein Agent des Zufalls, sondern Siegel der Notwendigkeit.

Wen es traf, der wurde eine Amtsperiode lang mit dem "Geschick" verbunden, der "ananké", und man setzte voraus, daß ihm diese Verbindung Heil verschaffen, seine Phrónesis stärken und beflügeln würde. Er hatte also nicht etwa "Glück gehabt" im flachen heutigen Lotto-Sinne, sondern das Los war ihm "aufgebürdet ", und er bekam Gelegenheit, sich dieser Bürde würdig zu erweisen und sich Ruhm zu verschaffen, indem er sie für die Stadt und den Staat nutzbar machte.

Moderne Demokratien könnten sich mit den bei-den Voraussetzungen durchaus anfreunden. Jeder Kandidat, der aufgestellt wird, ob Ochsentourer oder Seiteneinsteiger, hält sich ja ganz selbstverständlich für politikfähig, glaubt sich von Phrónesis erfüllt, und im Grunde spricht ihm kein Gegenkandidat diese Tugend ab, auch wenn er noch so heftig gegen ihn zetert. Man fühlt sich letztlich doch unter sich und einander ebenbürtig.

Und was die Rolle der Götter betrifft, der objektiven Notwendigkeiten, so zweifelt auch kein zeitgenössischer Politiker, und sei er noch so dezisionistisch gestimmt, daran, daß ihm diese Notwendigkeiten wie Berge entgegenstehen, daß er mit ihnen rechnen muß, ihren "Willen" erkunden muß, sich mit ihnen verbünden muß. Ist er Kirchenmitglied (auch Gerhard Schröder ist, soviel Pankraz weiß, während seiner 68er Zeit nicht aus der evangelischen Kirche ausgetreten), so betet er im Gottesdienst inniglich dafür, daß der Segen des Höchsten auf seiner verantwortungsvollen Tätigkeit liegen und ihm Kraft verleihen möge.

Die Vorteile einer Kandidatenwahl per Losentscheid liegen auf der Hand. Kein Wahlkampf mit demagogischen Tricks und leeren Versprechungen mehr, vielmehr eifriges gemeinsames Herausarbeiten und Anleuchten der Probleme, die vor der Polis stehen. Leidenschaftliche Sachdebatten ohne persönliche Rankünen, da ja die Personalfragen bereits in den "primaries" erledigt wurden, als spezielle Parteifreunde ihren speziellen Kandidaten für den "Tag des Orakels" benannten. Und am Tag des Orakels selbst nur noch Spannung, emphatisches Hoffen – und die Aussicht auf eine televisionäre Elefantenrunde am Abend ohne belämmerte, verlegen stammelnde Verlierer. Keine über Gebühr triumphierenden Sieger. Allenthalben Würde, Ernst, Besinnlichkeit.

Natürlich ist die athenische Methode für heutige Politologen ein Ärgernis, eine Monströsität. Wo bleibt die Volkssouveränität, der Wille der Mehrheit? Aber Pankraz kann nur wiederholen: Im gegenwärtigen "Wahlkampf" sind Volkssouveränität und Mehrheitswille viel ohnmächtiger als beim altathenischen Tag des Orakels. Ein Lotteriespiel läuft, bei dem die Aussicht auf Treffer gleich Null ist. Welchen Hebel wir auch ziehen, welches Feld wir auch ankreuzen – wir kriegen etwas Schlechtes heraus. Und müssen uns vorher zynische Reden anhören, die uns das Blaue vom Himmel herunter versprechen.

Wobei Pankraz aus seinem eigenen Herzen gar keine Mördergrube machen mag: Das Schlimmste wäre, glaubt er, wenn wir zum fünften Mal den Großen Schwarzen kriegten. Der hat seine politischen Tage nun wirklich dahin, dem kann kein Geschick mehr aufhelfen. Er ist einmal zuviel zum Brunnen gegangen, weil er sich in ruchlosem Übermut allen Ernstes für einen erklärten Liebling der Götter hielt, der ihr Glückslos gewissermaßen wie einen Freifahrschein in der Tasche trug.

Hätte er denn nicht, bevor er sich wiederum aufstellen ließ, ein bißchen bei Schiller nachlesen können? "Mir grauet vor der Götter Neide ..." Nun handelt er sich die historische Blamage ein, als erster deutscher Regierungschef direkt per Mehrheitsentscheid aus dem Amt geräumt zu werden. Und die Verhältnisse werden nach ihm, wenn nicht besser, so zumindest ehrlicher, klarer und reicher an Handlungsmöglichkeiten sein, es kommen wieder mehr Treffer in die Lostrommel.

Merke: "Wem die letzte Straßenbahn davongefahren ist, der findet so schnell auch kein Taxi" (Valentin Polcuch).


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