© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/98 21. August 1998


Parteien: Wie ein Begriff der italienischen Innenpolitik als Ausgrenzungsinstrument nach Österreich importiert werden soll
Die Erfindung des "Verfassungsbogens"
Peter Paul Rainer
 

Seit 1995 bemüht man verschiedentlich in Österreichs Innenpolitik den Ausdruck "Verfassungsbogen", wenn man die Freiheitlichen von einer möglichen Regierungsbeteiligung ausschließen oder gegenüber meist bereitwillig Beifall klatschenden internationalen Medienvertretern eine durch Jörg Haider personifizierte rechtsextreme Gefahr an die Wand malen will. Dabei soll suggeriert werden, daß dieser fiktive "Verfassungsbogen" alle demokratischen Parteien umfaßt, während die Freiheitlichen ihm nicht angehörten: ergo keine Demokraten seien. Ein Begriff, der gezielt polarisierend wirken und eine "Allianz aller politisch Korrekten" beschwören soll. Daß der Begriff noch nicht allgemeinen Eingang in den Wortschatz der Anti-Haider-Phalanx gefunden hat, hängt nicht zuletzt mit seinem "Erfinder" zusammen.

Der ÖVP-Klubobmann Andreas Khol muß diesen Terminus bei einem Italienaufenthalt unter Aufbietung seiner Italienischkenntnisse aufgeschnappt und in ihm gleich ein neues probates Ausgrenzungsinstrument gegen die FPÖ erkannt haben. Dem Politiker Khol sei daher die abgekupferte "Erfinderschaft" für Österreich ruhig gegönnt. Dem Universitätsprofessor für Politikwissenschaften Khol sollte jedoch bekannt sein, daß es sich bei dem von ihm über den Brenner mitgebrachten Begriff um einen Ausdruck handelt, der 50 Jahre lang fester Bestandteil der innenpolitischen Diskussion Italiens war und daher nicht einfach kopiert und auf die Realität eines anderen Staates übertragen werden kann. Zudem erfolgte das politische Plagiat Khols kurioserweise genau zu jenem Zeitpunkt, als er in Italien nach einem halben Jahrhundert endgültig und unter Zustimmung aller politischen Gruppen aus der politischen Diskussion verschwand.

Unter "arco costituzionale" verstand man vom Kriegsende bis 1995 alle italienischen Parteien, von den rechts von den Christdemokraten stehenden Rechtsliberalen (PLI) bis zu den links von den Kommunisten stehenden Demoproletariern (DP), mit Ausnahme des neofaschistischen Movimento Soziale Italiano (MSI). Der Begriff wurde also auch in Italien als Ausgrenzungsinstrument gebraucht, nur die Vorzeichen waren vollkommen anders. Nach den einschneidenden Erlebnissen der 1943 erfolgten Zweiteilung Italiens in einen monarchistisch-autoritären und unter alliierter Kontrolle stehenden süditalienischen Staat und einen faschistisch-republikanischen und unter nationalsozialistischer Kontrolle stehenden norditalienischen Staat, dem blutigen Kampf zwischen den Partisanen und dem sozialrevolutionären Faschismus in Norditalien wurde mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit vollzogen. Am 2. Juni 1946 erfolgte in einer Volksabstimmung die Abschaffung der Monarchie und gleichzeitig die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung, die eine neue, bewußt antifaschistische Verfassung für eine demokratische italienische Republik schaffen sollte. Die direkt aus dem aktiven antifaschistischen Kampf hervorgegangenen Parteien hatten bei der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung über 90 Prozent aller Stimmen erhalten. Die mit 1. Januar 1948 in Kraft getretene Verfassung, die per definitionem antifaschistisch war, wurde zur einschneidendsten Zäsur des seit seiner Ausrufung 1861 bestehenden italienischen Staates. Die Väter der Verfassung vollzogen nicht nur einen Bruch mit der faschistischen Vergangenheit von 1922 bis 1945, sondern auch mit der monarchistischen seit 1861 und damit kategorisch mit der gesamten Vergangenheit seit der Entstehung des italienischen Staates. Damit schuf man ex novo eine Verfassung und die dazugehörenden Übergangsbestimmungen, mit der Italien als antifaschistischer Staat mit einer neuen republikanischen Staatsform definiert wurde.

Der Begriff "Verfassungsbogen" entstand im Zuge der ersten Parlamentwahlen 1948, als auch der neofaschistische MSI den Sprung ins Parlament schaffte. Alle anderen Parteien, die an der Ausarbeitung der Verfassung mitgearbeitet hatten, definierten sich in ihrem Selbstverständnis als antifaschistisch. Zudem, und das ist wesentlich, entstand die neofaschistische Partei erst nach der Wahl der verfassunggebenden Versammlung und war damit auch nicht im geringsten an der Ausarbeitung der neuen Verfassung beteiligt. Der Begriff "Verfassungsbogen" bezeichnete daher in erster Linie, und zu Recht, jene Parteien, welche die Verfassung erarbeitet hatten, und dazu zählte der MSI nicht. In seinem Selbstverständnis nahm er auch nie Anstoß daran, daß er nicht dem "Verfassungsbogen" angehörte.

Erst 1995, als auf dem Parteitag von Fiuggi aus dem neofaschistischen MSI die postfaschistische Alleanza Nazionale (AN) entstand, erfolgte durch den Parteivorsitzenden Gianfranco Fini ein Bruch mit dem Faschismus, den er der Geschichte überantwortete. Dieser Wandel hin zu einer Partei der demokratischen Rechten wurde von allen italienischen Parteien bis hin zu den Altkommunisten anerkannt und gleichzeitig der Begriff "Verfassungsbogen" aus dem Vokabular der italienischen Innenpolitik gestrichen und seither nie mehr verwendet. Durch den radikalen Wandel der italienischen Parteienlandschaft ab 1994 war er obsolet geworden. Zusammenfassend kann aber gesagt werden, daß dieser Begriff in Italien durchaus seine Berechtigung hatte: aufgrund der historischen Tatsachen, der Entstehung der neuen Verfassung und ihrer Väter, aber auch aufgrund des Selbstverständnisses der antifaschistischen Parteien auf der einen Seite wie der Neofaschisten auf der anderen Seite.

In Österreich ist dieser Begriff hingegen vollkomen fehl am Platz sowie historisch falsch und enttarnt sich daher auch von selbst als künstliches Importprodukt. Erstens berufen sich alle drei traditionellen österreichischen Parteien in ihrer Tradition auf Vorgängerparteien in der Ersten Republik beziehungsweise sogar im Kaisertum Österreich. Zweitens entstand die österreichische Bundesverfassung nach dem Ersten Weltkrieg und wurde unverändert mit ihrer letzten großen Novelle von 1929 nach dem Zweiten Weltkrieg beibehalten. Daher kann die österreichische Verfassung, anders als die italienische, von vornherein keine antifaschistische Verfassung sein, da sie bereits vor dem Faschismus und Nationalsozialismus entstanden ist. Die Entstehungsweise, der Zeitpunkt ihres Entstehens und ihr Selbstverständnis unterscheiden die österreichische Verfassung also grundlegend von der italienischen. Drittens waren die Deutschfreiheitlichen nicht nur in der am 16. Februar 1919 gewählten deutschösterreichischen Nationalversammlung vertreten, sondern wirkten auch maßgeblich an der Ausarbeitung der österreichischen Bundesverfassung mit, die am 1. Oktober 1920 verabschiedet wurde, und sind damit Väter der österreichischen Verfassung.

Eine Anwendung des Ausgrenzungsbegiffs "Verfassungsbogen", wie er in Italien berechtigt war und daher von den Neofaschisten auch nie beanstandet wurde, ist in Österreich gegenüber den Freiheitlichen von vornherein absurd. Die österreichische Verfassung ist weder antifaschistisch noch kann sie es aufgrund ihres Entstehungszeitpunktes sein, und die Freiheitlichen haben diese Verfassung mitgeschaffen und mitgetragen und können daher nicht außerhalb des "Verfassungsbogens" stehen, der ausdrücklich eine Partei ausgrenzte, die weder an der Ausarbeitung noch an der Annahme der Verfassung beteiligt war und sogar stolz auf die Nichtmitwirkung war. Es zeigen sich also zwischen Italien und Österreich vollkommen verschiedene Verhältnisse, die nicht vergleichbar sind.

Wollte man den Kholschen Gedanken als neues Ausgrenzungsinstrument – das er gerade aus der italienischen Mülltonne hervorholte, als es die italienischen Parteien endgültig verwarfen –, zu Ende denken, dann würden alle Parteien außerhalb des Verfassungsbogens stehen. Der ÖVP würde der Austrofaschismus schwer bekommen, genauso wie der SPÖ der Austromaxismus als Erbschuld anzulasten wäre. Vielleicht dosiert der Politplagiator daher selbst je nach Windstärke den Gebrauch dieses Begriffes. Anstatt in den Mülltonnen anderer Staaten zu wühlen, könnten österreichische Politiker von der politischen Streitkultur der italienischen Innenpolitik lernen, der weitgehend jeglicher Dogmatismus fehlt, der den Dialog zwischen den österreichischen Parteien für den politischen Beobachter oft so sinnlos schwerfällig und realitätsfremd erscheinen läßt.

 

Peter Paul Rainer war Geschäftsführer der Jungen Generation der Südtiroler Volkspartei (SVP) und Mitbegründer der Freiheitlichen Partei in Südtirol. 1997 wurde er wegen Mordes an Christian Waldner, dem ehemaligen Vorsitzenden der Südtiroler Freiheitlichen, zu 22 1/2 Jahren Gefängnis verurteilt (JUNGE FREIHEIT berichtete). Seit 29. Juni läuft der Berufungsprozeß.


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