© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Wahlkampf: Schröder setzt auf absolute Mehrheit
Joker im Ärmel
Von Dieter Stein 

Was dem Rotwild die Brunftzeit ist, ist den Politikern der Wahlkampf. Röhrend ziehen sie durch das Land und machen den Souverän, das Volk darauf aufmerksam, daß man auf sie im Staat nicht verzichten kann. Der Kandidat bemüht sich, einen guten Eindruck zu machen. Und da die Auswahl diesmal etwas größer ist (unter über dreißig Parteien darf man sich entscheiden), werden sich die Bürger diesmal besonders prüfen, bevor sie sich im Wahllokal für vier Jahre an eine Formation binden.

Die Zahl unentschiedener Wähler ist hoch – fast jeder zweite ist noch unschlüssig. Für die Union wird die Lage immer bedrohlicher. 1994 war es ihr noch gelungen, den Stimmungstrend vor der Wahl umzukehren. Nachdem der Herausforderer Scharping drei Monate vor der Wahl noch deutlich vorne gelegen hatte, holte ihn Kohl bereits im August 1994 ein und siegte im September. Diesmal sitzt die SPD bei Umfragen auf einem sicheren Sockel von 42 bis 43 Prozent, während die Union abgeschlagen bei 38 Prozent liegt.

Es ist damit zu rechnen, daß die SPD kurz vor der Wahl den Kampf um die absolute Mehrheit einläutet – die absolute Mehrheit der Sitze im Bundestag. Schon jetzt hängen die Grünen, FDP und die PDS schwitzend an der Fünf-Prozent-Barriere und bangen um den Wiedereinzug in den Bundestag. Die Grünen sind nach ihrem Parteitag und der Fünf-Mark-Benzindebatte auf 5 bis 6 Prozent abgestürzt, die FDP – wie die Grünen früher um die zehn Prozent – ebenfalls bei knapp sechs Prozent. Farblosigkeit von Kinkel und Gerhardt sowie das Ausfransen der nationalliberalen Klientel nach rechts tun ihr übriges. Die PDS nun leidet auch unter dem Rechtsruck ihres Milieus: Da sie ohnehin nur über drei Direktmandate den Einzug an der Fünf-Prozent-Hürde vorbei in den Bundestag bewerkstelligen kann, bangt sie nun um die knappen relativen Mehrheiten bei den Erststimmen in den roten Hochburgen Berlins. Hier genügen schon wenige Prozentpunkte Verlust an rechte Listen, und der Wahlkreis geht an den knapp hinter der PDS liegenden SPD-Kandidaten.

Schröder wird also kurz vor dem 27. September die staatsmännische Parole ausgeben: Wer den sicheren Wechsel will, muß SPD wählen. Wer Grün/FDP/PDS wählt bekommt allenfalls eine unbewegliche Große Koalition. Wenige Prozentpunkte, die Schröder durch diese Strategie dann von den kleinen Parteien gewinnt, könnten diese endgültig aus dem Parlament katapultieren. Dann reichen Schröder auch 45 Prozent der Stimnmen, um im Bundestag eine uneingeschränkte Mehrheit zu haben.

Wahlkampf ist nicht die Zeit des Streites um intellektuelle Zukunftsmodelle. Es ist ein brutales Kräftemessen, bei dem zum Schluß auch ohne Bandagen gekämpft wird. Skrupellos lassen die gerissenen Parteipolitiker Grundsätze fahren, wenn es dem Ziel dient, die Macht zu erreichen. Grüne kippen radikale ökologische Forderungen, die PDS schreibt opportunistisch an Alt-Bundespräsident von Weizsäcker, um sich als marktwirtschaftlich und westlich, geläutert demokratisch feilzubieten. Zähneknirschend schlucken Schröder und Lafontaine wechselseitig die Kröten, die ihnen der jeweils andere am laufenden Band verpaßt. Schröder präsentiert sich als der hemdsärmelige Chauvi, der sozialdemokratisches Inventar um den Preis neuer Wirtschaftsfreundlichkeit zu Kleinholz verarbeitet, während Lafontaine innerparteilich, um in der SPD nicht allzu große Unruhe aufkommen zu lassen, wieder mühsam aufmöbliert, was Schröder soeben zertrümmert hat.

Die Präsentation von Fachleuten und Quereinsteigern an der Partei vorbei ist etwas Neues im betonierten Parteienstaat Deutschland. Schröder hat hier einen richtigen Impuls gegeben. Nun war die Union unter Zugzwang. Nicht anders zu erklären ist, daß Kohl plötzlich den früheren Erzrivalen Lothar Späth als wirtschaftspolitischen Berater aus dem Ärmel zieht.

Was soll uns das signalisieren? Marketingmäßig soll die "Botschaft rüberkommen", daß Kohl gar nicht so verbohrt ist, wie er immer dargestellt wird. Nein, er reicht selbst dem erbittertsten Gegner wieder die Hand zur Versöhnung. Er hatte ja schon den "Rambo der Bild-Zeitung", Hans-Hermann Tiedje als PR-Berater in sein Team geholt, der nun täglich im auflagenstärksten Boulevardblatt Anzeigen mit saftigen Schlagzeilen textet: "Führung in einer Welt voller Sorge. Bundeskanzler Kohl". Kanzler-Liebling Tiedje war einst bei Kohl in tiefe Ungnade gefallen, weil er den Regierungschef auf einer Bild-Titelseite als "Umfaller" in der Steuerpolitik bezeichnet hatte.

Weiterhin soll die Nominierung von Späth zeigen, daß neuerdings wirtschaftspolitischer Sachverstand gefragt ist in der Bundesregierung. Und es soll die Kompetenz der Union beim Thema "Aufbau Ost" unterstreichen, da Späth sich einen Namen mit der drastischen Sanierung des Jenaer Optikkonzerns "Jenoptik" gemacht hat.

Der Endspurt des Wahlkampfes wird spannend. Die Chancen der Union auf einen Wahlsieg werden aber immer dünner.


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