© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/98 28. August 1998


Vertriebene: Vor 50 Jahren erinnerten alle Parteien an die Verbrechen
Denkwürdige Debatte
von Alfred Schickel 

Die deutschen Heimatvertriebenen erinnern sich dieser Tage an eine Parlamentsdebatte, die vor 50 Jahren im Bayerischen Landtag geführt wurde. Da beschäftigten sich am 26. August 1948 Christlich-Soziale, Frei- und Sozialdemokraten mit erstaunlichem Freimut mit den an den Deutschen begangenen Verbrechen im Sudetenland und in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches. Die damals gerade zu Ende gegangenen Siegerprozesse von Nürnberg hatten die Volksvertreter nicht davon abgehalten, auf die Untaten der Vertreiber hinzuweisen und gleichen Maßstab der Verurteilung einzufordern.

So warf der aus dem mittelfränkischen Grunzhausen stammende FDP-Abgeordnete Fritz Linnert die Frage auf, "warum Verbrechen gegen die Menschlichkeit abgeurteilt werden, wenn sie von Deutschen begangen wurden, und warum demgegenüber die unzähligen Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht auch dann abgeurteilt werden, wenn sie andere Völker begehen?" Linnert warnte vor einer einseitigen Betrachtung der Vergangenheit und verwahrte sich gegen den möglichen Vorwurf, aufrechnen zu wollen: "Wir entschuldigen nichts, was den anderen angetan worden ist. Aber wenn man schon von einer internationalen Gerechtigkeit, von einem internationalen Tribunal spricht, dann ist es wohl kein unbescheidenes Verlangen, wenn wir sagen: ‘Prüft nach, was mit Millionen von Deutschen geschehen ist’.

Der FDP-Politiker erinnerte auch an das Schicksal der deutschen Brünner: "Wenn ich an die Berichte über den Todesmarsch der Deutschen aus Brünn denke, wo man die Männer in Lager geschickt, die Kinder, Greise und Frauen zu Fuß 60 Kilometer weit an die österreichische Grenze getrieben und diejenigen, die nicht mehr mitkommen konnten, totgeschlagen hat, so frage ich: ‘Warum spricht hier kein Weltgewissen?’" Eine Frage, die sich nach einem halben Jahrhundert mit gleicher Eindringlichkeit stellt; wie auch die geschichtlichen Verweise seines Fraktionskollegen Kurt Weidner auf die folgenschweren Vorgänge der Jahre 1918 und 1919 trotz unzähliger Beschwörungen noch keineswegs zur Allgemeinbildung der Nachgeborenen gehören.

So fehlt beispielweise in der Deutsch-tschechischen Erkärung von 1997 völlig, was der FDP-Parlamentarier bereits vor 50 Jahren ausgeführt hat: "Wie ist es denn 1918 und 1919 gewesen, bevor es zum Frieden von St. Germain gekommen ist? Die Sudetendeutschen haben damals, vertrauend auf die Wilsonschen Punkte, erklären lassen, daß sie sich mit dem Wiener Deutschtum verbunden fühlen. Zu der gleichen Zeit haben aber tschechische Sokols die sudetendeutschen Gebiete besetzt. Daß diese Sudetendeutschen an ihrem Heimatland, an ihrem Deutschtum hingen, war das einzige Verbrechen, das sie begangen haben. Diese gewaltsame Besetzung des Sudetenlandes im Jahre 1919 kann doch wohl durchaus nicht zu dem Recht führen – ganz abgesehen von den Greueltaten –, diese Deutschen aus dem jahrtausendalten angestammten Gebiet zu vertreiben."

Solche Feststellungen und Folgerungen sucht man vergebens in der umstrittenen Deklaration, obwohl sie einleitend die Notwendigkeit "eines klaren Wortes zur Vergangenheit" betont, "wobei Ursache und Wirkung in der Abfolge der Geschehnisse nicht verkannt werden" dürfen.

Die eigene Erinnerung oder gesammelte Erfahrung ermöglichte der Erlebnisgeneration offenkundig noch den Blick über die NS-Verbrechen und ließ sie die Vorgeschichte der Entwicklung zu den Jahren 1933 und 1938 erkennen. Den Nachgeborenen scheinen die Vorgänge zwischen Hitlers "Machtergreifung" und dem Ende des Dritten Reiches wie ursachenlose Erbflüche vor Augen zu treten und in Dauerverantwortung zu nehmen. Bestürzende Kehrseite der "Gnade der späten Geburt".

Die Männer der Erlebnis- und Wiederaufbau-Generation schienen weniger von der nachmaligen Instrumentalisierung der Geschichte bedroht als vielmehr vor einem neuen Rassismus in Sorge. Der CSU-Abgeordnete August Haußleiter drückte diese Besorgnis in jener historischen Debatte so aus: "Wenn wir hier zu Verbrechen sprechen, die gegenüber Deutschen begangen worden sind, dann geschieht das nicht, um irgend ein billiges Alibi zu suchen, sondern aus dem Grunde, weil wir sagen: Der erste Mörder muß bestraft werden; das gibt aber niemanden das Recht, den Mord fortzusetzen, gegen den wir uns alle wenden. Wenn der Mord fortgesetzt wird, dann wird sich das Bedürfnis nach Rache fortsetzen. Wenn Menschen um ihrer Volkszugehörigkeit willen, die sie gelernt haben, ohne jede Untersuchung totgeschlagen, gefoltert, ins Gefängnis und Konzentrationslager gesperrt werden, dann wird der Haß zwischen den Völkern weiterwachsen, dann wird sich ein neuer rasender Nationalismus nicht aufhalten lassen."

Gleichsam als erschütternde Beispiele für diesen "neuen rasenden Nationalismus" erinnerte Haußleiters Parlamentskollege Weidner den Todesmarsch von Komotauer und Saazer Männern sowie an die Aussiger Pogrome mit der Vernichtung unzähliger Menschen in der Elbe im Juli 1945.

Weidner berichtete aus eigenem Erleben: "Am 23. Oktober 1945 stand ich selbst in Breslau zwischen Gräbern auf einem Friedhof und sollte erschossen werden. Wie durch ein Wunder bin ich davongekommen. Genauso wie mir erging es vielen anderen in Breslau, in Schlesien und besonders in Oberschlesien. Vor allem habe ich dabei eines feststellen müssen: einen Haß aus den Augen meiner Häscher, den ich bis dahin nicht gekannt hatte und der für mich unverständlich war." Weidner bekannte freimütig: "Ich glaube an die Gerechtigkeit unter den Völkern. Das heißt aber, daß in den Zeiten der Rechtsfindung in den Nürnberger Prozessen die anderen, die die gleichen Schandtaten begangen haben, nach dem gleichen Recht verurteilt werden."

Der sozialdemokratische Abgeordnete Franz Op den Orth zitierte in seinem Debattenbeitrag zwei amerikanische Stimmen über die Vertreibung und ihre unmenschlichen Begleitumstände: die Journalistin Anne O’Hare McCormick und den Bischof von Fargo, Aloisius Muench. Die Amerikanerin nannte in einem Artikel vom 13. November 1946 "das Ausmaß dieser Aussiedlung und die Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht, ohne Gleichnis in der Geschichte". Sie befürchtete: "Niemand, der unmittelbar Zeuge dieser Greuel war, kann bezweifeln, daß da ein Verbrechen an der Humanität verübt wird, für das die Geschichte eine schreckliche Vergeltung fordern wird."

Die vertriebenen Sudetendeutschen widerlegten durch ihr Verhalten diese Befürchtung und bekundeten alsbald zusammen mit ihren ostdeutschen Schicksalsgefährten ihre Bereitschaft, auf Vergeltung zu verzichten und sich um eine Verständigung mit den Nachbarvölkern zu bemühen. Eine moralische Vorleistung, die bei den politisch Verantwortlichen der Vertreiberstaaten bis heute noch nicht angemessen gewürdigt worden ist. Erste Ansätze einer verbalen Gegenleistung, wie sie das Bedauern über die Vertreibung andeutete, gingen bald im nationalistischen Parteienspiel unter. Die 1945/46 aus dem Land Vertriebenen fühlen sich 50 Jahre danach sogar noch durch anzügliche Vergleiche politisch-moralisch getreten.

Und das angesichts eines Verbrechens, welches der amerikanische Bischof von Fargo "das größte dieses Zeitalters" genannt hat. Der SPD-Abgeordnete Op den Orth erinnerte daran und zitierte Aloisius Muench: "Die Geschichte kennt nichts, was ihm gleichzusetzten wäre, ausgenommen vielleicht die Tatsache, daß man weder einen Aufschrei der Völker anderer Nationen gegen die Gräßlichkeit hört, noch von irgendeiner jener Regierungen, die dazu die Macht hätten."

Eine Klage, die manche Vertriebene durch das Verhalten bestimmter Politiker zunehmend aktualisiert sehen. Sie vermissen nicht nur den "Aufschrei" gegen das Vertreibungsverbrechen, sondern auch die menschliche Solidarität mit ihrem durchlittenen Schicksal. Statt in ihrem Schmerz über das verweigerte Heimatrecht angenommen und in ihren Eigentumsansprüchen vertreten zu werden, fühlen sie sich von der Mitsprache über ihre alte Heimat immer mehr ausgegrenzt, nicht selten sogar als politische Störenfriede behandelt.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen