© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/98 04. September 1998

 
Wahlkampf: Helmut Kohl auf dem Alexanderplatz in Berlin
Trillern bis zur Ermüdung
von Christian Uebach

"Nazis raus" skandiert der Mann mit dem SPD-Button auf seinem Anorak und verschwindet in der Menschentraube. Es ist Donnerstag, der 27. August, 17 Uhr. Ungefähr 100 Personen drängen sich außen um eine Gitterabsperrung, die von Polizeikräften gesichert wird. Innerhalb des Gatters versammeln sich Bürger, die die Wahlkampfrede Helmut Kohls auf dem Platz vor dem "Roten Rathaus" in Berlin verfolgen wollen, aber dieses Publikum ist erlesen. "Nur die mit dem roten Ausweis kommen rein", gibt eine Polizistin Auskunft.

Zahlreiche Passanten haben sich weit außerhalb der Absperrung um den Springbrunnen auf dem Alexanderplatz versammelt. Die meisten scheinen nicht den Plakaten, die Kohl ankündigten, gefolgt zu sein, sondern sind wohl durch das selbst für Berliner Verhältnisse ungewöhnliche Polizeiaufkommen aufmerksam geworden. Einige von ihnen klettern auf den Brunnenrand. Manche stellen sich auf Bänke, um das weit entfernte Podium sehen zu können, hinter dem Kohl wie ein Koloß steht. Hinten am Brunnen kann man die Rede jedoch nur schlecht verfolgen, denn diejenigen, die sich um die Absperrung drängen, begleiten die Veranstaltung mit dem ohrenbetäubenden Lärm unzähliger Trillerpfeifen. Die mit dem roten Ausweis innerhalb der Absperrung, etwa 400 an der Zahl, verfolgen die Rede Kohls aufmerksam. Ihre Blicke ruhen auf ihrem Kanzler, und sie applaudieren von Zeit zu Zeit. Über ihren Köpfen wehen schwarz-rot-goldene Fahnen. Denen mit den Trillerpfeifen hinter dem Gitter scheint das Tragen der Nationalfarben fremd zu sein. Statt dessen zeigen sie Transparente mit Sprüchen wie "Hau endlich ab nach 16 Jahren" oder der schon oft gehörten Parole "Kohl muß weg". Manche tragen den runden "Antifa"-Aufnäher am linken Oberarm. Die meisten Störer scheinen an solchen Veranstaltungen schon oft teilgenommen zu haben und der Rede an sich nicht folgen zu wollen. Die Hände in den Taschen vergraben, blasen sie routiniert in die Pfeifen zwischen ihren Zähnen. Nur einzelne raffen sich zu Beschimpfungen des Kanzlers auf. Kohl geben die Chaoten Anlaß, seine Zuhörer vor Zuständen wie bei den Chaos-Tagen in Hannover zu warnen. Gerhard Schröder sei der einzige Ministerpräsident, der so etwas in seiner Hauptstadt zulasse. Er dankt den Polizisten, die den Schutz und die Freiheit des Bürgers bewahrten, und erntet dafür den Applaus seiner Anhänger. Am Gitter gibt es Gerangel zwischen den Störern und der Polizei, was die anwesenden Kameraleute mehr interessiert als die Ansprache. So entgehen ihnen manche Schlüsselaussagen Kohls, zum Beispiel zum schon einsetzenden Aufschwung oder den sicheren Renten.

Es ist sowieso zu kühl für die Jahreszeit, und nun beginnt es auch noch leicht zu regnen, weswegen sich die Gruppe, die weit hinten um den Springbrunnen steht, zusehends auflöst. Kohls Stimme dringt durch: "Die blühenden Landschaften sind da." Da wird ein Passant hellhörig, fängt an zu lachen und tippt sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Gegen 18.45 Uhr harren außerhalb des Gitters fast nur noch die Leute mit den Pfeifen aus, deren Trillern man eine gewisse Ermüdung anmerkt und von denen sich manche Gehörschutz in die Ohren gesteckt haben. Erst als Kohl sich zu öffentlichen Gelöbnissen bekennt, schwillt das Pfeifen erneut an.

Nachdem der Kanzler nach fast zwei Stunden mit der Wahlempfehlung für sich und "diese Republik" geschlossen hat und die Zuhörer auffordert, "rechts und links eine Absage" zu erteilen, bricht innerhalb des Gitters stürmischer Beifall los, und die Fahnen werden eifrig geschwenkt. Außerhalb der Absperrung wird das Pfeifen noch einmal stärker; als schließlich die Nationalhymne erklingt, erreicht es seinen Höhepunkt. So schnell, wie Helmut Kohl von der Bildfläche verschwunden ist, lösen sich auch die Gruppen diesseits und jenseits des Gitters auf, und das Pfeifen wird von der Schlagermusik abgelöst, die nun aus den Lautsprechern dröhnt.


 
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