© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/98 04. September 1998

 
Pankraz, J. Simon und das Symbol bei den Fußkranken

In Dortmund hat die Staatsanwaltschaft jetzt Ermittlungen gegen einen angesehenen Arzt, Leiter der orthopädischen Abteilung in einem katholischen Krankenhaus, aufgenommen wegen "Verdachts auf Vorzeigen verbotener Symbole". Der Arzt soll bei der täglichen Gymnastik seine Patienten u. a. dazu angehalten haben, im Verlauf einer bestimmten Rhythmusübung mit dem ausgestreckten rechten Arm in die Luft hineinzustoßen, d. h. er soll sie zum "Hitlergruß" angestiftet und ihnen dazu noch suggeriert haben, daß das gesund sei und den Heilungsprozeß anrege.

Im Lande Brandenburg hat die Polizei Anweisung erhalten, Jugendliche, die die Ziffer 88 an eine Wand kritzeln oder in den Sand pinkeln, unverzüglich festzunehmen, denn die Ziffer 88 sei "ein Symbol für den Hitlergruß". Weshalb sie das ist, hat Pankraz nicht herausbekommen, aber es interessiert ihn, offen gesagt, auch nicht sonderlich. "Symbol" heißt der Etymologie nach "das wahllos Zusammengesuchte". Man kann eine Sache ganz zwanglos per Verabredung zum "Zeichen für etwas" ernennen. Wichtig ist nicht die Sache selbst, wichtig ist allein die Verabredung. Sie erst macht eine Sache zum Symbol.

Mag sein, der Dortmunder Orthopäde hat gar nicht mitgekriegt, daß sich im Kontext seiner Gymnastikstunde ein Zeichen verbarg, und zwar ein "staatsfeindliches Zeichen". Mag ferner sein, die in Brandenburg die 88 in den Sand pinkelnden Jugendlichen wissen gar nichts von der Symbolhaltigkeit dieser Zahl, jedenfalls nichts Genaues, haben nur läuten hören, daß man mit dieser Zahl die Obrigkeit auf die Palme bringen kann. In beiden Fällen läge die Unschuld der Delinquenten unmittelbar am Tag. Wer ein Symbol verwendet, muß es in vollem Bewußtsein tun und muß voll über seine Bedeutung Bescheid wissen. Nur dann kann er zur Verantwortung gezogen werden.

Damit mußte sich schon die Weimarer Republik abfinden, die freilich viel liberaler war als die Kohlsche BRD. Bei Kurt Tucholsky kann man es nachlesen, in dem berühmten Feuilleton "Ein älterer, aber leicht besoffener Herr". Der Herr erzählt da in Berliner Dialekt, wie er in der Vorwahlzeit verschiedene politische Versammlungen besucht habe, darunter eine von der NSDAP. Zitat:

"Da hatten manche vabotene Hemden an. ‘Runta mit det braune Hemde!’ sachte der Wachtmeister zu ein. ‘Diß iss ein weißes Hemde!’ sachte der. ‘Det is braun!’ sachte der Jriene. Der Mann hat ja um sich jejampelt mit Hände und Fieße; er sacht, seine weißen Hemden sehn immer so aus, saubrer kann a nicht, sacht a. Da ham sen denn laufen lassen".

In dem Standardwerk "Philosophie des Zeichens" von Josef Simon (Berlin 1989) ist nachzulesen, daß ein Zeichen keineswegs immer für eine ganz bestimmte Bedeutung stehe, da im Grunde alles Zeichen sei. "Zeichen ist alles, was wir in einem uneingeschränkten Sinn verstehen, ohne zu meinen, es sei nur in einer oder gar nur in ‘meiner’ Interpretation erschöpfend erfaßt, so daß man wisse, ‘was’ seine Bedeutung sei".

Mit anderen Worten und auf die Justiz angewendet: Jedes Zeichen ist eingebettet in eine Vielzahl von anderen Zeichen. Wer wegen Zeichenabgabe vor den Kadi gebracht werden soll, dem muß ganz glasklar nachgewiesen werden, daß er genau jene Bedeutung im Sinn gehabt hat, die die Strafverfolger selbst ihrem Zeichen beimessen.

Das ist sehr schwierig (es sei denn, die Leute sind so eingeschüchtert, daß sie sich jederlei Zeichenbedeutung widerstandslos aufschwatzen lassen), weshalb jeder halbwegs vernünftige Staat bei der Verfolgung von Zeichen und Symbolen überaus vorsichtig vorgeht. Über die Kriminalisierung von einigen wenigen Kernsymbolen in einigen Standardsituationen geht er nie hinaus (sofern er überhaupt kriminalisiert). Die Alternative dazu sieht ja auch wahrhaft grauslich aus.

Man stelle sich vor: Ein Arzt macht sich bei einem seiner Patienten unbeliebt, und der beschließt, ihn via Symbolkriminalität zur Strecke zu bringen. Der Arzt ist von vornherein verloren. Denn irgendein Zeichen oder irgendeine Situation läßt sich mit dem inkriminierten Kernsymbol immer in Verbindung bringen.

Und man stelle sich weiter vor: Ein Kernsymbol wird per Gruppenverabredung durch ein anderes, beliebiges Symbol ersetzt, und da sich nun die Verfolgung (illiberale Verhältnisse vorausgesetzt) sogleich auf das neue Symbol ausdehnt, wird wieder ein anderes aufgetan und wieder eins und wieder eins und so weiter und so fort. Schließlich sind ganze ausgedehnte Zeichensysteme kriminalisiert, die Sprache insgesamt verwandelt sich in vermintes Gelände.

Aber der verfolgende Staat hat nicht das Geringste davon, er macht sich am Ende nur noch in monumentaler Weise lächerlich, gräbt sich das eigene Grab. Das eindrucksvollste Exempel dafür liefert die Spätgeschichte der DDR, als sich genau jener symbolische Verdünnungs- und Ausfranzungsprozeß abspielte.

Da damals der ganze Bereich politischer Kernsymbolik mit staatlichen Anweisungen und Verboten zugedeckt war, wichen die Bürgerrechtler auf eine "Zeichenreihe zweiter Ordnung" aus, indem sie zum Beispiel anläßlich von Militärparaden Transparente mit der Aufschrift "Schwerter zu Pflugscharen" vorzeigten oder anläßlich von Rosa-Luxemburg-Demos der SED Transparente mit dem Luxemburg-Satz "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden". Natürlich wurde auch das verboten und verfolgt, und so folgten Zeichenreihen dritter und vierter Ordnung.

Zum Schluß zeigte die Opposition nur noch Transparente, auf denen gar nichts zu lesen war, die reine, unbeschriftete Leinwand. Das Nichts war zum Kernsymbol geworden, und der Staat verschwand daraufhin schnell. Leider mit ihm nicht die Symbolhysterie.


 
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