© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/98 11. September 1998

 
Wissenschaft: Wie Hunde die Menschen domestiziert haben könnten
Das Mittelhirn ist geschrumpft
von Ulrich Karlowski

Eine neue Theorie geht davon aus, daß nicht nur wir die Hunde zu Haustieren gemacht, sondern die Hunde möglicherweise auch uns domestiziert haben. Laut Dr. Colin Groves, Dozent im Fachbereich für Archäologie und Anthropologie der Australian National University Canberra, sind die Menschen der Frühzeit von den Hör-, Riech- und Sehfähigkeiten des Hundes abhängig geworden, so daß sich einige Teile des menschlichen Gehirns verglichen mit anderen Gehirnteilen zurückentwickelten. Groves stützt seine These auf genetische Untersuchungen, nach denen Mensch und Hund schon viel länger als bislang angenommen beste Freunde sein könnten, nämlich nicht erst seit 10.000, sondern bereits seit mehr als 100.000 Jahren.

"Die Hunde dienten den Menschen als Warnsystem, sie halfen ihnen beim Spurensuchen und Jagen, waren Resteverwerter, Wärmflasche, Babysitter und Spielkamerad der Kinder. Die Menschen versorgten die Hunde mit Nahrung und gaben ihnen Sicherheit. Diese über 100.000 Jahre andauernde symbiotische Beziehung intensivierte sich während des Holozän-Zeitalters bis hin zur gegenseitigen Domestizierung", so Groves. Er nimmt damit eine im Jahre 1914 aufgestellte Theorie wieder auf, wonach Menschen einige derselben körperlichen Merkmale wie domestizierte Tiere aufweisen, das auffälligste darunter: das kleiner gewordene Gehirn. Beim Pferd schrumpfte es nach der Domestizierung um 16 Prozent, bei Schweinen sogar um 34 Prozent. Bei Hunden schwanken die Zahlen zwischen 10 und 30 Prozent. Nicht alle Teile des Gehirns reduzierten sich im gleichen Maße. Am stärksten betroffen waren Vorderhirn und Corpus callosum (der sog. Balken, die wichtigste Verbindung zwischen den Gehirnhälften), am wenigsten Mittelhirn und Nachhirn. Beim Menschen jedoch habe sich das Mittelhirn (Umschaltstelle der Hör- und Sehbahn) und das Riechzentrum (Bulbus olfactorius) stark verkleinert, erkärt Colin Groves.

Erst im letzten Jahrzehnt hatten Archäologen ausreichende Erkenntnisse aus der Fossilienwelt gewonnen, um mit Sicherheit sagen zu können, daß sich das Schädelvolumen beim Homo sapiens in Europa und Afrika seit Beginn des Holozän-Zeitalters, also vor zirka 10.000 Jahren, um mindestens zehn Prozent verringert hat. Laut Groves könnte diese Rückentwicklung mit der Intensivierung der Mensch-Hund-Beziehung begonnen haben, welche zu einer Reduzierung von bestimmten menschlichen Gehirnfunktionen, wie Geruchs- und Hörfunktionen, geführt habe. Hunde sind die am längsten domestizierten Tiere.

Daß deren Domestizierung bereits vor 100.000 Jahren begann, schloß eine internationale Gruppe von Genetikern unter der Leitung von Robert Wayne von der Universität von Kalifornien, Los Angeles, aus einer Analyse der mitochondrialen DNA von 162 Wölfen aus allen Teilen der Welt und 140 ausgewählten Hunden 67 verschiedener Rassen. "Die Untersuchung ergab, daß sich Hunde von Wölfen schon genauso lange unterscheiden wie die unterschiedlichen Wolfarten untereinander – und das ist in der Tat schon seit langer Zeit", meint Colin Groves.

Für Professor Angela von den Driesch, Leiterin des Instituts für Palaeoanatomie, Domestikationsforschung und Geschichte der Tiermedizin der Ludwig-Maximilians-Universität in München, ist allerdings der Zeitpunkt der Abspaltung sehr zweifelhaft: "Es war sehr kühn, Unterschiede in Gensequenzen einem genauen zeitlichen Maßstab zuzuordnen, denn Mutationen können auch sehr schnell aufeinander folgen. Nach unseren Erkenntnissen ist der Hund vor etwa 15.000 Jahren entstanden." Ob die von Groves beschriebenen Domestikationserscheinungen bei Menschen tatsächlich auf eine gegenseitige evolutionäre Beeinflussung von Mensch und Hund zurückgeführt werden können, so Professor von den Driesch, müsse daher noch sehr viel gründlicher untersucht werden. Diese Gehirnfunktionen könnten sich genausogut von alleine auf unserem langen Weg vom Ur-Menschen zum Kulturmenschen zurückgebildet haben.


 
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