© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/98 11. September 1998

 
Fontane und die Standesschranken: Eine Erinnerung zum 100. Todestag
Die feinen Unterschiede
von Jörg Judersleben

"Civis Americanus sum! Sie sind dankbar für das Eisen im Blut ihrer Väter…" Wenn es bloß schon vorüber wäre! Schweiß steht auf der Stirn von Rektor Erich Schmidt, während er sich unter den Augen seiner kaiserlichen Majestät unbeholfen bemüht, den Bogen von Luthers vita activa zum strenuous life zu schlagen: der Erfindung jenes Sozialdarwinisten, den er hic et nunc zum Ehrendoktor promovieren soll. Und wie er ihn nun mustert, dieser Theodore Roosevelt, mit der ungenierten Dreistigkeit des Weltmanns und Republikaners! Jener andere Theodor, Fontane, hatte fünfzehn Jahre zuvor bei gleichem Anlaß verschämt die Augen niedergeschlagen. Wie war das doch geruhsam damals! Er, Schmidt, hatte kurz nach dem Mittagessen noch beim alten Mommsen vorbeigeschaut und gefragt, ob er mitkommen wolle; er wollte natürlich nicht. Da war er denn allein mit Dekan Richthofen bei Fontanes vorgefahren, hatte geläutet und dem verdutzten Dichter die Urkunde in die Hand gedrückt…

"Viro illustrissimo excellentissimo Theodoro Fontane Berolinensi Poetae …" Schweiß steht auf der Stirn des Berliner Poeten Theodor Fontane, während er sich unter den Augen des Ordinarius unbeholfen müht, das Verstehen des Wortlauts der Urkunde vorzutäuschen. Und wie er ihn dazu mustert, dieser Erich Schmidt, mit der ungenierten Herablassung des deutschen Professors! Neulich erst hat er mit einem anderen dieser Mandarine im Vorzimmer des Kultusministers warten müssen, und als der Bote kam und fragte, ob die Herren zusammengehören, war der Professor entrüstet abgefahren und hatte "Nein!" trompetet – in einem Ton, in einem Ton…!

Immerhin, Schmidt ist der Schlechteste nicht. Dank seiner Initiative haben sie wenigstens einmal "Ja!" gesagt, die 51 Großkopfeten der Philosophsichen Fakultät, ja gesagt zu einem ästhetischen Apotheker als Ehrendoktor – einmalig geradezu. Als der Alte anderntags die Dankschreiben abwickelt, beschließt er, daß Schmidt zum Doktorschmäuschen seinen Toast haben soll: pläsierlich, versteht sich, wie man es von ihm, Fontane, erwartet. Er angelt nach der Übersetzung des Diploms, will wissen, als wen man ihn eigentlich ehrt. Natürlich: als "ausgezeichneten Erzähler, der märkische Überlieferungen und Landschaften emsig durchforscht hat und nach reichen Bildern aus der Vergangenheit gegenwärtiges Leben mit frischen Farben malt" – als Mann der "Wanderungen", was denn sonst. Ein Netz aus Fontane-Wanderwegen wird demnächst die Mark überspannen, mit stattlichen Bismarck-Türmen durchsetzt. Geist und Macht, harmonisch arrangiert für preußische Landpartien. Fontane schmunzelt säuerlich. In seinen Gedichten sieht es anders aus, wie im wirklichen Leben nämlich. Da klopft ihm der große Friedrich grinsend auf die Schulter: "Poete allemand? Ja, ja, Berlin wird Weltstadt …" Da ist er wieder Fritz Katzfuß, der verbiesterte Kaufmannslehrling, mit der Schlagwurstpelle als Lesezeichen zwischen Goethes Gedichten. – Dieses Kommisgeschnatter! Diese Küchendünste! Dieses Pogeklapse! Diese Abkunft, wie hat er sie gehaßt …

Und dennoch: War sein Vater nicht ein ganzer Kerl, wenn er ihn beim Schneeschaufeln mit Schillers "Elysischem Fest" traktierte? Gebührt ihm selber, dem Kind aus dem Volke, nicht der Lorbeer des Autodidakten? Seltsamer Lorbeer, vor dem sich die Türen verschließen! Einmal, ein einziges Mal nur schien es ihm, als seien die Standesschranken plötzlich gefallen: im literarischen Sonntagsverein "Tunnel über der Spree", wo er gemeinsam mit Studenten, Leutnants und Referendaren erste Verse schmiedete. 50 Jahre ist das jetzt her, und fast per Du ist man gewesen. Die Leutnants sind heute Generale, die Generale Gerichtspräsidenten – aber er? Er schmiedet Verse. Und wenn er im Tiergarten einem von ihnen begegnet: "‘Nun, lieber F., noch immer bei Wege?’ / ‘Gott sei Dank, Exzellenz … Trotz Nackenschläge …’ Kenn ich, kenn ich, das Leben ist flau…’"

Gar nichts kennst du. Nicht die Scham, die einer empfindet, wenn er von Ereignissen berichtet, die er aus Geldnot gar nicht miterlebt hat. Nicht den Zorn, der ihn überkommt, wenn ein Schriftleiter der Vossischen Zeitung solche Berichte kalt lächelnd zusammenstreicht. Nicht die Bitterkeit, die aus der traurigen Erkenntnis folgt: Um von Preußens monde goutiert zu werden, braucht man ein "Bureau" – und ein Reserveoffizierspatent. Die gesellschaftliche Stellung des Dichters hat er gelegentlich mit der des Provinzmimen verglichen. Nicht daß er, Fontane, sich damit klaglos abgefunden hätte, oh nein! Eine Berufsorganisation der freien Schriftsteller hat er gefordert, eine "Gewerkschaft" – ja mein Gott, warum denn nicht? Und für die anderen, die Generale, die Gerichtspräsidenten, hält er die passenden Worte parat. In der Schublade, einstweilen.

Fontane erhebt sich ächzend, stöbert in Manuskripten. Da ist es ja: "Sie kommen zur rechten Zeit auf das Gymnasium und gehen zur rechten Zeit vom Gymnasium ab, sie studieren die richtige Zeit und sind mit 28 1/4 bis 28 3/4 Assessor. Höchstens daß ihnen ein Spielraum von sechs Monaten gestattet wird. Einen Monat früher ist Anmaßung, ein Monat später ist Lodderei." Eben. Glück ist planbar, wenn die Apanage stimmt. "Sie heiraten immer ein wohlhabendes Mädchen und stellen bei Ministers die lebenden Bilder." "Allerlei Glück", so heißt der Romanentwurf; ob er ihn veröffentlichen wird?

Fontane legt die Blätter zurück. Sie sind ja nicht seine Feinde. Sie mögen ihn ja, im Grunde. Auch wegen seiner Romane: wegen "Vor dem Sturm" und … – nun gut, hauptsächlich wegen "Vor dem Sturm". Mommsen, der imposante, der gebildete Mommsen hat vermutlich nur den gelesen. Fontane tunkt die Feder ein, bedankt sich bei dem Patriarchen dafür, daß der ihm die erwiesene Ehre in Worte gekleidet hat, "an die der neue Doktor freilich voll würdigend nicht herankann, von deren Kraft und Schönheit ihm aber bessere Männer erzählt haben". Eine kleine Stichelei – der große Theoderich wird sie verstehen. – Und jetzt ein Teller Erbsensuppe! So hat er letzthin sein Glück definiert: Ein Schlag Erbsen und keine Zahnschmerzen. Mehr braucht er nicht. Manchmal.

(Fortsetzung von S. 11) Wenn es nur immer so wäre! Einen Monat nach diesem 26. November 1894, an seinem 75. Geburtstag, wird Theodor Fontane unruhig die Glückwunschadressen durchmustern. Und feststellen, daß seine Protagonisten wieder einmal fehlen. Kein Stechow, kein Bredow und kein Itzenplitz, kein General und kaum ein Gerichtspräsident ist unter den Gratulanten, die Meyer heißen oder, anrüchiger noch, alttestamentarisch: Abram, Isaak, Israel … Der Prophet gilt nichts im eigenen Lande. Und wird geliebt von denen, die kein eigenes haben. Man kann sich seine Verehrer nicht aussuchen. Aber man kann ihnen dankbar sein. Und ein Gedicht versöhnlich ausklingen lassen, mit jenem selbstironischen Charme, den Generale und Gerichtspräsidenten nicht nötig haben. "Jedem bin ich was gewesen, / Alle haben sie mich gelesen, / Alle kannten mich lange schon, / Und das ist die Hauptsache …, ‘kommem Sie, Cohn!’".

"Kommen Sie, Schmidt!" Dekan Roethe nimmt den Freund behutsam am Arm. Dem Urfaust-Entdecker geht es seit Monaten nicht gut. Bei seiner Rektoratsansprache ist er zusammengebrochen, da dürfte es besser sein, ihn aus der Derrièregarde des Kaisers dem Präsidenten etwas herauszuhalten. Besorgt sieht Roethe, wie Schmidt sich zitternd die Stirn abtupft, und er ahnt auch den Grund. Erich hat sich in letzter Zeit etwas weit aus dem Fenster gelehnt, ein bißchen zu häufig betont, daß er nachher zu Majestät geladen sei oder irgendeinen Salon der Hautevolée. So etwas setzt unter Druck, unter "Repräsentationsdruck", wie die neumodischen Soziologen sagen. Zumal dann, wenn man, prähistorisch, Schmidt heißt, Jenenser ist und Parvenü. Da kollabiert man am Ende – aus Angst, etwas falsch zu machen. Wer im Kaiserreich lebt, sollte wissen, wohin er gehört.

Theodor Fontane starb am 20. September 1898 im Alter von 78 Jahren. Erich Schmidt knapp 15 Jahre später. Diesseits der 60.


 
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