© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/98 11. September 1998

 
Geld stinkt nicht: Immer mehr Kleinanleger wagen den Gang an die Börse
Aufstehen mit dem DAX
von Ronald Gläser

Termin beim Hautarzt. Er muß ein Präparat verschreiben. "Da haben wir zwei zur Auswahl. Eins von Smith Kline Beecham, eins von Hoechst." "Ich will das von Hoechst, davon habe ich nämlich ein paar Aktien im Depot." "Meinen Sie nicht, daß Bayer viel bessere Kurs-Chancen hat?"

Ein Gespräch, wie es sich dieser Tage nicht nur in Arztpraxen sondern auch in Amtsstuben, Lehrerzimmern, Gartenlokalen und selbst vor Imbißstuben abspielt. Alles dreht sich um DAX, Dow-Jones, Nikkei & Co. Die Börse verändert das Denken. Waren es früher Glasperlen und Feuerwasser, die die Herzen der Menschen höher schlagen ließ, so sind es heute Aktien, Optionsscheine und Bezugsrechte. Der Traum vom schnellen Geld fasziniert alle. Und nachdem die Kurse seit rund drei Jahren trotz der aktuellen Kurseinbrüche nur eine Richtung zu kennen scheinen (nämlich die nach oben), sind dieser Phantasie auch keine Grenzen gesetzt.

Vor einigen Wochen erst durchbrach der DAX die Marke von 6.000 Punkten. Zum Vergleich: 1997 ist die Marke um 3.000 Punkten gefallen. 100 Prozent Kursentwicklung seitdem. Da empfindet der Börsianer ein tiefes Mitleid für alle, deren Sparbücher mit gerade einmal 1,45 Prozent verzinst sind.

Jeder Hobby-Börsianer weiß, daß eine Zuteilung bei einer der gefragten Neuemissionen, wie zuletzt Jenoptik, Teles oder Drillisch, einem Lotteriegewinn gleichkommt. Vor allem am Neuen Markt sind täglich Kursgewinne von 10 bis 20 Prozent an der Tagesordnung. So hat sich EM TV binnen Jahresfrist verdreißigfacht (=3.000 Prozent). Oder die Brokerhäuser wie Berliner Freiverkehr, bei der die Kursrakete eine Stufe nach der anderen gezündet hat: Kursverdoppelungen binnen weniger Tage. Gleichzeitig stieg Ballmeier & Schulz von 1.000 auf 15.000 Punkte. Bilder von sektschlürfenden Börsenfrischlingen häufen sich, die ihre Unternehmen in Aktiengesellschaften umgewandelt haben.

Von dieser Art sind die Erfolgsstories, die den Neo-Börsianer nicht mehr loslassen, sobald er einmal Feuer gefangen hat. Und die Börse ist bewußtseinssteigernd. Der Neuling taucht in eine neue Welt ein. Er fährt zum Flughafen, steigt in eine Lufthansa-Maschine von Boeing, in der er eine Zeitung des Springer-Verlages liest. Nach Ankunft in Paris mietet er sich einen Nobelkarosse bei Sixt und begibt sich direkt zum Hilton Hotel. Und all die Unternehmen gehören ihm ja gewissermaßen, weil er schließlich Aktionär ist. Nur der Triumphbogen, den er besucht, ist noch nicht zu haben…

Plötzlich interessiert der hoffnungsvolle Neu-Börsianer sich für Leute, deren Namen er früher nicht mal kannte: Alan Greenspan zum Beispiel, Chef der US-Notenbank und Angstgegner aller Anleger. Erwägt er vielleicht öffentlich eine Zinserhöhung? Dann fallen die Aktienmärkte im Handumdrehen. Oder Rolf Breuer, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank. "Was geht nur im Kopf von diesem Mann vor? Mit welcher Großbank will er fusionieren, welche will er aufkaufen?" Fragen eines lesenden Börsianers.

Schnell erweitert sich der Grundwortschatz: Kurs-Gewinn-Verhältnis, Hebelwirkung, implizierte Volatilität und Marktkapitalisierung. Das ist nun alles auf einmal unendlich viel wichtiger als die atomare Bedrohung oder die Notwendigkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Die Börse sorgt für abendfüllende Gesprächsthemen. Manch einer behauptet sogar, Kursgewinne seien besser als Sex. So beschwert sich die blonde n-tv-Moderatorin Carola Ferstel, sozusagen die Karin Tietze-Ludwig der Aktionärsgemeinde, darüber, nicht mehr zu wissen, ob man mit ihr auf Parties nun wegen ihrer Haare oder wegen ihres Jobs flirtet. Immerhin hat der richtige Börsenjunkie, seitdem n-tv bereits ab 5.30 Uhr die Kurse aus Tokio anzeigt, einen echten Grund, aufzustehen. Wobei der Ton meistens nur aufgedreht wird, wenn die Telebörse flimmert. Im Autoradio wird nicht mehr Musik, sondern Deutschlandfunk gehört, da werden gelegentlich Kursnotierungen durchgesagt. Und abends schaut man CNBC mit Analysen und Hintergründen.

Börse wird zum Lifestyle. Junge Leute führen ein Leben zwischen Mattscheibe und Handy – fahren Cabriolets und gehen ins Fitness-Studio. An den Unis geht in den Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten das Handelsblatt besonders schnell weg. Rascheln in der Mikroökonomie-Vorlesung verrät den coolen Börsianer. Ein neues Zielpublikum ist geboren: Der junge, dynamische Anleger. Für ihn gibt’s auch neue Zeitschriften, wie zum Beispiel Bizz!, mit den neuesten Trends und bunten Bildern. So aufbereitet, daß es auch der Bäckerlehrling aus Wermelskirchen verstehen kann, um sein Gehalt zu investieren. Hektik hebt die Herzschlagfrequenz – Infarkt vorprogrammiert. Sterben ja – aber bitte reich!

Das US-Magazin Newsweek meinte kürzlich etwas hämisch, einem echten Börsianer sei ein Golfspiel zu lang, weil er da die Kurse nicht verfolgen könne. Und der selbstverständliche Gedanke eines männliches Anlegers, der erstmals von Viagra hört, ist nicht etwa, wie er schnellstmöglich an die Potenzpillen kommt, sondern: Wie heißt die Firma, die das herstellt?

Das Interessanteste an Zeitreisen? IBM für 11 Dollar kaufen! Laufen wir derzeit Gefahr, eine Milchmädchenchaussee zu erleben? Per defenitionem geschieht dies, wenn auch die letzte Putzfrau einen Kredit aufnimmt, um Aktien zu kaufen, weil diese ja nur am Steigen sind. Meistens enden so die Höhenflüge der Aktienmärkte: Von Joseph Kennedy, Vater des Präsidenten und "selfmade-Millionär", ist überliefert, daß ihm eines Tages ein Schuhputzer Tips für die Börse gegeben habe. Daraufhin habe er alle Aktien verkauft, zwei Monate später kam es zum legendären Schwarzen Freitag an der Wall Street.

Mittlerweile wollen sogar Fußballvereine und die Formel 1 an die Börse gehen. Die wohl spektakulärste Meldung kam aus Flensburg: Beate Uhse plant jetzt auch den Gang an die Börse.


 
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