© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/98 18. September 1998

 
Wunsch und Wirklichkeit
von Dieter Stein

Die Leser der JUNGEN FREIHEIT schätzen die politische Lage realistisch ein, wie die Ergebnisse der Umfrage zeigen, die in dieser Ausgabe ausgewertet wird. Gewünscht wird eine Große Koalition oder die Fortsetzung der Union/FDP-Regierung. Erwartet wird jedoch ein politischer Wechsel oder die Große Koalition. Die Chancen für den Einzug einer Partei, die den rechten Flügel des Parteienspektrums im Bundestag ergänzt, stehen demoskopisch gut, es wäre auch ein Gewinn für die politische Landschaft und einen lebendigen Pluralismus in Deutschland – die parteipolitische Wirklichkeit steht dem aber entgegen. Deshalb rechnet der größte Teil nicht mit dem Einzug einer parteipolitischen Alternative, obwohl dies vom überwiegenden Teil der Leser gewünscht wird.

Es treten bei der Bundestagswahl mit Millionenaufwand Formationen an, deren Kräfte sich gegenseitig paralysieren werden. Zum Teil ist das Innenleben der Parteien – so z. B. bei DVU und Pro-DM – der Öffentlichkeit nicht oder nur spärlich zugänglich. Der JUNGEN FREIHEIT werden so Interviews mit DVU-Vertretern konsequent verweigert, weshalb wir keine kritischen Interviews mit Repräsentanten dieser Partei veröffentlichen können. Es existiert eine Unkultur der Verweigerung von Öffentlichkeit und Transparenz, die diese "Szene" so unsympathisch macht. Zusammenwachsen kann nur, wenn man weiß, was zusammengehört. Der Appell an Ressentiments und nationales Pathos reicht als gemeinsamer Nenner nicht aus – auf dieser Klaviatur wird im Moment von rechten Wahlbündnissen landauf landab gespielt.

Viele wünschen sich offenbar die Bündelung von Kräften – wissen aber gleichzeitig, daß dem die Eigendynamik der unterschiedlichsten Formationen entgegensteht. Eine Partei, die einmal gegründet ist, ist nicht mehr totzukriegen. Erfolgreiche Fusionen kennt die deutsche Parteiengeschichte kaum – weshalb es an ein Wunder grenzen würde, wenn sich nach dem 27. September Parteien im rechten Spektrum zusammenschlössen. Der Wähler wird’s nicht verstehen, es ist aber so. Manche Protestwähler werden sich deshalb für die lautstärkste Variante entscheiden, die sich bei Wahlen anbietet – das ist die DVU. Schwer auszumachen, wohin sich diese Partei entwickelt. Werden die Fraktionen – jetzt in Sachsen-Anhalt, bald in Mecklenburg-Vorpommern – ein demokratisches Eigenleben entwickeln, das sie vom Münchner Unternehmen emanzipiert? In jedem Fall bietet die Bundestagswahl am 27. September noch einige Überraschungen. Angesichts der chaotischen Alternativen wäre es aber nicht verwunderlich, wenn es Kanzler Kohl – allen Umfragewerten zum Trotz – wieder schaffen würde, als "kleinstes Übel" durch die Ziellinie zu gehen.


 
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