© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/98 18. September 1998

 
Pankraz, Peeping Tom und die trübe Suppe der Redundanz

Washington hat jetzt ein neues Kürzel für das Grundübel der modernen Welt: TMI. Die drei Initialen stehen für "Too Much Information" ("Zu viel Information"). Auslöser für die Bildung war der ungeheure mediale Trubel um Präsident Clintons Unterhosengeschichten, die Armee von Kameras und Mikrophonen, die sich jedes Mal ums Weiße Haus zusammenballt, wenn eine neue "Enthüllung" angekündigt wird, der Starr-Report im Internet, die Sonder-Talkshows, das schier wahnwitzige Alles-Wissen-Wollen.

Solches Treiben, heißt es nun drüben, sei nur noch TMI, und es sei schädlich für jeden einzelnen und für das Land. Es habe (so die zwar zickige, aber nicht unwitzige Maureen Dowd von der New York Times) aus den Amerikanern eine Nation von "Peeping Toms", von Schlüssellochguckern, gemacht.

Die Feststellung läßt sich ohne weiteres auf andere Länder, ja, auf die ganze "moderne Informationsgesellschaft" übertragen, und sie trifft auch nicht nur für Sexgeschichten zu, sondern umschließt faktisch die komplette Datei dessen, was heute Tag für Tag über die Kanäle läuft. Der voll verkabelte, mit dreißig TV-Programmen, Faxgerät und Internet-Anschluß gesegnete Zeitgenosse läuft ständig Gefahr, zum reinen Schlüssellochgucker zu degenerieren, zu jener Horrorfigur des "Peeping Tom", wie sie einst der junge Karlheinz Böhm in der Frühzeit seiner Filmkarriere so unvergeßlich verkörpert hat.

Ihm werden dauernd Bilder und Texte aufgetischt, die ihn im Grunde nicht das Geringste angehen und die ihn von seinen eigenen Lebenserfordernissen wegziehen, ihn zum bloßen Voyeur machen, der sich in seiner rezeptiven Passivität allerlei unappetitliche Dinge ausdenkt. Zu viel Information (TMI), behauptet Pankraz, ist genauso schädlich wie zu wenig Information, führt in die Irre, läßt einen zu nichts kommen, verblödet letztlich.

Eine bestimmte Nachricht, das weiß jeder Informationstheoretiker, bedarf der Redundanz, um optimal überzukommen, gewisser, an sich überflüssiger Zusatznachrichten. Aber die Redundanz darf nicht überwuchern, weil die Nachricht sonst jeglichen praktischen Wert verliert, bald nur noch wie eine Stecknadel im Heuhaufen gesucht werden muß. Dieser Zustand, darin hat Maureen Dowd nur allzu recht, ist heute im Zeichen von TMI erreicht.

Der "informierte" Zeitgenosse, Lieblingskind aller möglichen Hochglanzprospekte, ist in Wirklichkeit ein desinformierter, von Redundanz zugedeckter, mit dem man über kurz oder lang wird machen können, was man will. Selbst wenn er einen starken Charakter hat, sich in die Zucht nimmt, sich jeglicher Zapperei versagt, kann er doch nicht verhindern, daß ihn ständig irgendwelche unerwünschten Informationen behelligen. Er gleicht dem Senator Seneca im alten Rom, der, weil er in Ruhe arbeiten wollte, sich verzweifelt die Ohren verstopfte, um das Gebrüll der Gladiatoren und ihres Publikums aus dem Circus maximus nicht hören zu müssen. Er hörte es dennoch, es durchdrang alles.

Und was für einen einzelnen Senator gilt, das gilt nicht minder für das ganze Land. TMI behindert die Staatsgeschäfte. Gewiß, moderne Gesellschaften sind, wie schon Talcot Parsons erkannt hatte, "one issue societies", also Gesellschaften, die immer nur von einem einzigen Großthema fasziniert und angetrieben werden, so daß sie darüber alle anderen vergessen. Doch fatalerweise ist das jeweilige Großthema in der Regel gar nicht das wichtigste, stammt eben aus der trüben Suppe der von TMI aufgerührten Neben- und Redundanzthemen.

Niemand wird ja behaupten wollen, es gäbe zur Zeit in Amerika nichts Wichtigeres als die öffentliche Beschäftigung mit Clintons Sexgeschichten. Und wie mit diesen Geschichten steht es mit den meisten "one issues". Pankraz erinnert an gewisse Vorkommnisse hierzulande, an die Castor-Transporte etwa, an die Scientology-Sekte, an das auch bei uns grassierende "Diana-Fieber" – sämtlich, bei Lichte betrachtet, pure Nichtereignisse, deren einziger "Wert" darin bestand, daß sie die Kanäle füllten.

Läßt sich etwas dafür tun, daß der Senator wieder ordentlich arbeiten kann und wir alle nicht geile Schlüssellochgucker werden? Auf den ersten Blick sieht die Sache eher düster aus. Die riesige Menge der Kanäle (die die "digitale Revolution" ins buchstäblich Unermeßliche steigern wird) gleicht dem Rachen eines gefräßigen Orcas, der gefüttert werden will. So viele nützliche und interessante Informationen, wie der vertragen könnte, gibt es gar nicht, und so muß denn aller möglicher Dreck her, damit die Bestie nicht eines Tages uns selbst verschlingt.

Will sagen: Solange TMI nur Redundanz hervorbringt und nicht von sich aus tödliche Menschenjagden organisiert (um anschließend darüber berichten zu können), ist der Gipfelpunkt der Fatalität noch nicht erreicht. Man kann noch halt machen, man kann noch zur Besinnung kommen, wie das jetzt in Washington mit der Diskussion über TMI der Fall zu sein scheint. Auch der spürbare Besucherrückgang bei der Berliner Cebit weist in diese Richtung.

Das euphorische Triumphgeheul über den angeblich glorreichen Eintritt in die "Informationsgesellschaft" ist – wenigstens punktuell und zeitweise – verstummt. Ein günstiger Moment, um über das Wesen von Information und Redundanz in breiten Kreisen nachzudenken und vielleicht schon einmal einige Strategien der Sonderung und Abwehr auszuprobieren.

Abschalten und die Anbieter spüren lassen, daß sie nicht gebraucht werden, wäre beispielsweise eine solche Strategie. Nicht nur die Cebit, sondern auch die bombastisch-nichtigen "Info-Parks" ehrgeiziger Landespolitiker links liegen lassen, zumindest mit Skepsis bedenken. Nicht freiwillig den Peeping Tom spielen. So käme man wohl schon eine Runde weiter.


 
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