© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/98 25. September 1998

 
Parteien: In der CDU gibt es über 60 frühere DDR-Bürgerrechtler
Mit Handschlag begrüßt
von Ines Steding

Was die Bürgerrechtsbewegung in der DDR em ehesten kennzeichnete, war ihre Vielfalt und Unübersichtlichkeit. Verteilt über das ganze Land, waren zunehmend in den achtziger Jahren generationenübergreifend immer mehr Menschen aus sehr unterschiedlichen Beweggründen heraus umtriebig, die fehlende politische Partizipation aller Staatsbürger einzufordern. Die christliche Überlieferung, die Friedensbewegung, aber auch die kritische Auseinandersetzung mit der herrschenden kommunistischen Doktrin wurden zu Auslösern für Dissidenz und Verweigerung. In Kauf nahmen die Regime-Gegner Schikanen und Verhaftungen, was sich letzlich auszahlte: Die Tatsache, daß die DDR an Montagen friedlich wegdemonstriert wurde, wäre im Ergebnis ohne die Anstöße und den Einsatz der lose miteinander verwobenen Bürgerrechtsgruppen so nicht denkbar gewesen.

Im Jahre 1989, als die Geschichte bebte, waren Neues Forum, Demokratischer Aufbruch und Demokratie jetzt! die Antwort vieler DDR-Gegner auf das bundesrepublikanische Parteiensystem. Den um das Bündnis ’90 erweiterten Grünen wuchs der politische Sachverstand vieler Bürgerrechtler zu. Auch die Sozialdemokraten ließen, was den Zulauf der einstigen Oppositionellen in ihren Reihen betraf, die CDU hinter sich. Indes, kurz vor Vollendung der ersten Nachwende-Dekade hat sich das Blatt gewendet: Heute führen die Christdemokraten die meisten Bürgerrechtler in ihren Reihen, die sich zudem auf dem Leipziger Parteitag 1997 als "Bürgerrechtler in der CDU" formiert haben.

Sicherlich war die CDU für die oftmals einer reformierten DDR anhängenden Dissidenten die westliche "Feindpartei" per se. Aber andererseits waren nach 1989 die politischen Lager für die Bürgerrechtler nicht dergestalt endgültig definiert, daß sie dafür bereit gewesen wären, auf Dauer ihnen Verqueres zu schlucken. Der antitotalitäre Grundkonsens eint die Bürgerrechtler untereinander, und wie der inoffizielle Sprecher der CDU-Bürgerrechtler Erhart Neubert ausführt, wurde für diesen gemeinsamen Nenner zusehends die CDU als adäquate Plattform ausgemacht.

Parteiübertritte von der SPD zur CDU sorgten für Schlagzeilen. Angelika Barbe sei genannt, die nicht mehr bereit war, das Magdeburger PDS-Tolerierungsmodell mitzutragen. Aber auch die Bündnisgrünen mußten bluten: Deren unakzeptable Abgrenzungspolitik zum Unrechtsstaat DDR, der mangelnde Wille, das dort erfolgte Unrecht konsequent zu verfolgen, veranlaßte Vera Lengsfeld, unter großen Anfechtungen ihr Bundestagsmandat zur Union hinüberzuziehen. Über die Jahre hinweg entstand so in der CDU ein bürgerrechtlicher Nukleus, wobei sich einer der führenden ehemaligen DDR-Kritiker, der CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann, noch nicht durchgerungen hat, dem Kern offiziell beizutreten. Zur Ur-Gruppe der ersten zwanzig CDU-Bürgerrechtler gehört der sächsische Umweltminister Arnold Vaatz, einer der sechs Bürgerrechtler in der Union, die für den Bundestag kandidieren.

Nach aktuellem Stand gibt es 64 "Bürgerrechtler in der CDU", die, wie der laufende Wahlkampf zeigt, bundesweit als Redner gefragt sind. Zweifelsohne, die Bürgerrechtsthematik hat an Schwung gewonnen. Sie äußern sich zu Fragen der deutschen Einheit, zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, dazu gesellen sich Erörterungen zur wehrhaften Demokratie und zur allgemeinen Politikverdrossenheit.

Ein zentrales Anliegen ist die Menschenrechtsfrage. Dieses Feld wollen die leiderprobten DDR-Gegner künftig mit größerem Nachhall besetzen: Allgemeine Wirtschaftsbeziehungen oder internationale Sportveranstaltungen mit mehr oder weniger demokratischen Staatswesen, so Neubert, sollten die Verbesserung der Lage der dort lebenden Menschen nicht völlig ausblenden. Demnach gibt es also eine grundsätzliche Übereinstimmung der "Gruppe der 64" über die politischen Inhalte. Zudem werden immer wieder auch Offenheit und Wahrhaftigkeit in der politischen Auseinandersetzung angeführt, die den Ausschlag für die CDU gegeben haben. Dies gilt auch für Siegfried Reiprich; der Spätbeitreter wurde auf dem Bremer CDU-Parteitag mit einem Handschlag von Kanzler Kohl begrüßt. Nachdem Reiprich sich in der DDR den Idealen der freiheitlichen Demokratie verschrieben hatte, mußte er mit persönlichen Einbußen leben. Seinen existentiell geschärften Anforderungen an Freiheit wird heute die Union am ehesten gerecht.

Ein großer Teil der ehemaligen DDR-Bürgerrechtler in der CDU entstammt einem christlichen Umfeld. Naturgemäß waren für die engagierten Christen in der DDR konfessionelle Fragen weniger bedeutsam als die Gegnerschaft zum DDR-Regime. Wie der protestantische Theologe Neubert, zugleich Sprecher der Gruppe, einräumt, standen ökumenische Dispute auch deshalb nicht im Vordergrund, weil im Osten die Katholiken traditionell eine kleine Minderheit sind. Und so wundert es nicht, daß sich nur ein Katholik in den Reihen der CDU-Bürgerrechtler befindet, der Cottbusser Wirtschaftsdezernent Markus Derling.

Der Wettstreit um das Ideenreservoir aus der Bürgerrechtsbewegung der untergegangenen DDR wird weitergehen. Nach den Wahlen wollen die 64 CDU-Bürgerrechtler eine Programmatik erarbeiten, vor allem aber auch den eigenen historisch gewachsenen Numerus Clausus überwinden: Die Grundhaltung der Bürgerrechtsbewegung, für Offenheit und Wahrheit einzutreten, sollte sich jeder zu eigen machen können.


 
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