© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/98 25. September 1998

 
Pankraz, Don Carlos und die Wahl als Überraschungs-Ei

Kann man der Bundestagswahl, die nun endlich über die Bühne geht, noch einige unterhaltsame Gedanken abgewinnen? Nun, der Wähler selbst, wie er in der Kabine steht und sein Kreuzchen macht, ist ein gar nicht so uninteressantes Wesen. Man sollte ihn mal im Augenblick seines Kreuzchenmachens anleuchten.

Monatelang hat man ihn mit Propaganda bombardiert, wollte ihn in eine bestimmte Richtung schubsen, hat seine Stimmung unzählige Male per Meinungsumfrage abgetastet und hochgerechnet. Und nun steht er also in der Kabine und soll entscheiden. Und er mag sich dabei klar machen, daß all die Popagandareden, Schubsereien und Umfragen völlig für die Katz waren, mit seiner Entscheidung nicht das geringste zu tun haben. Denn diese Entscheidung fällt eben erst jetzt und hier, in einem einzigen Augenblick, und solche Augenblicke haben ihre eigene Charakteristik.

Es ist dies ein uraltes philosophisches Problem, mit dem sich schon Platon beschäftigt hat. Zwischen einem Ereignis und einem anderen, das aus ihm folgt, lehrte er, gibt es einen Augenblick ("exaiphnes"), der weder das eine noch das andere ist, eine Jähe des Umschlags, in der die totale Freiheit wohnt. Bevor etwa Bewegung Ruhe wird oder Ruhe wieder in Bewegung übergeht, geschieht etwas, das weder Ruhe noch Bewegung ist, das – genau betrachtet – überhaupt nichts ist, in dem aber alles möglich ist. Die Zeit steht da plötzlich still, und die Ewigkeit schaut herein. Wer Herr über diesen Augenblick ist, der ist wirklich frei.

Den Mystikern hat die Platonsche Erkenntnis gewaltigen Eindruck gemacht, aber auch den modernen Existentialisten von Jaspers bis Sartre. Meister Eckardt im Mittelalter schmiedete daraus sein berühmtes "Nu", die Begegnung des Ich mit Gott im emphatisch erlebten Augenblick. Jean-Paul Sartre in unserem Jahrhundert folgerte aus dem "exaiphnes", daß der Mensch sich nichts gefallen zu lassen braucht, daß er noch in Ketten frei sei.

Mögen wir noch so sehr mit allen möglichen Ursachen zugedeckt werden, sagte Sartre, wir sind dennoch frei, wir müssen uns nicht zu angeblich "notwendigen" Folgen der Ursachen machen, sondern können uns in die Zukunft hinein "entwerfen". In diesem "Entwurf" wird unsere Freiheit offenbar. Natürlich ist der Augenblick des Entwurfs unerhört vergänglich, und er führt letztlich in lauter neue Notwendigkeiten hinein, aber das nimmt ihm nichts von seiner Exzellenz. "Einmal waren wir frei, und das ist die Zukunft allemal wert."

Schön ist es auch (sagt nun Pankraz), wenn man nachträglich merkt, daß viele am Wahltag den Augenblick ihrer Freiheit wirklich genossen haben; das spiegelt sich bekanntlich darin, daß es zu "überraschenden" Ergebnissen kommt, die kein "Meinungsforscher" vorausgesehen hat und die quer zu den Arrangements stehen, welche die Politiker für den Tag nach der Wahl bereits vorbereitet haben. Überrascht werden kann immer nur der, der nichts von der Freiheit hält und für den die Züge immer schon abgefahren sind, noch bevor die Passagiere die Fahrkarte gelöst haben.

"Das Überraschende macht Glück", sagt der König Philipp in Schillers "Don Carlos". Selbst diejenigen, denen eine Überraschung im konkreten Fall nicht ins Konzept paßt, saugen in der Regel Honig daraus, bewähren sich als "Krisenmanager", reagieren schnell und erfinderisch, warten ihrerseits mit Überraschungen auf. Den meisten heutigen Zeitgenossen ist ohnehin fast jede Überraschung recht, vom sprichwörtlichen Überraschungsgast in der Talkshow bis zur "Kinderüberraschung" im Schokoladen-Ei.

In der Politik verhindern Überraschungen in der Wahlnacht, daß man allzu schnell zur sogenannten Tagesordnung übergeht. Man muß nun die Versprechungen, die man vorher gemacht hat, ernster nehmen, muß sich möglicherweise auch mit unbequemen Wahrheiten vertraut machen, behutsamer mit anderen umgehen. Vielleicht wird sogar mancher "closed shop", mancher seit Ewigkeiten geschlossene Laden, wieder etwas offener.

Auch daß die "Meinungsforscher" durch Überraschungen blamiert werden, ist erquickend. Denn das Geschäft der "Meinungsforscher" verdirbt zunehmend die Politik. Viele Bonner Politiker lesen nur noch Umfragen, wenn sie etwas entscheiden müssen, um ja keine Einbuße an "publicity" zu erleiden. Sie nutzen das ihnen erteilte Mandat nicht, um ihre Überzeugungen zu verwirklichen (falls sie welche mitbrachten), sondern hecheln Augenblicksstimmungen hinterher, von denen sie nicht einmal wissen, ob es sich um wirkliche Stimmungen oder um bloße Chimären handelt.

Um auf den Wähler in seiner Kabine mit seinem "exaiphnes" zurückzukommen: Manchmal wird letzterer, obwohl er doch an sich schon Freiheit ist, dazu genutzt, sich gewissermaßen erst einmal zur Freiheit emporzuarbeiten, sich einen Frust vom Halse zu schaffen, indem man "Denkzettel" austeilt. Das ist zwar kein ehrloses Verhalten, ist aber dem großen Augenblick nicht ganz angemessen. Wenn der Wahlschein wirklich zum Denkzettel werden soll, muß seine Botschaft eher mit Humor denn mit Wut gewürzt sein. Nur dann bleibt ein hübscher Rest von Unaufklärbarkeit, der zum Denken anhält.

Gut wäre übrigens, man hielte (wie es ja einige Wahlsysteme vorsehen) nicht nur eine einzige Wahl zu einem bestimmten Gremium ab, sondern deren zwei unmittelbar hintereinander. Im ersten Wahlgang kann sich der "exaiphnes" austoben, ohne auf die nachfolgenden Notwendigkeiten Rücksicht zu nehmen, im zweiten (nachdem man ausgiebig besichtigt hat, was man angerichtet hat) kann man sich auf die Notwendigkeiten einstellen und eine taktische (deshalb schon nicht mehr wirklich freie) Entscheidung fällen. Wie gesagt, das wäre gut, denn allzu sehr überrascht werden will man auch wieder nicht.


 
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