© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/98 25. September 1998

 
Kriegsschuld 1914: Vor 40 Jahren begann die "Fischer-Kontroverse"
Der deutsche Sonderweg
von Hans B. von Sothen

Die Jahre 1957 und 1958 bezeichnen in der Geschichte der Bundesrepublik den Beginn eines Umbruchs, der sich lange Jahre für die Öffentlichkeit kaum bemerkbar vollzog und der erst zehn Jahre später mit der Studentenrevolte seinen öffentlichen Ausbruch erlebte. Die Ostermarsch-Bewegung – wie man heute weiß, erheblich aus Moskau und Ostberlin beeinflußt – entstand im Jahre 1958 in England und griff rasch auf Deutschland über. In diese aufgeheizte Atmosphäre platzte der Artikel eines damals noch weithin unbekannten Hamburger Historikers, Fritz Fischer, der in der angesehenen Fachpublikation Historische Zeitschrift (Band 188) über die Frage der deutschen Kriegsziele und der deutschen Kriegsschuld publizierte.

In jenen Jahren ging es auf konservativer Seite darum, den totalen Traditionsabbruch durch die Nationalsozialisten aufzufangen und die Traditionslinien, die als Kraftquell für die nationale deutsche Identität dienen könnten, wieder aufzunehmen und eine Weiterentwicklung der historischen Diskussion dort wieder anzuknüpfen, wo sie der Nationalsozialismus 1933 abgeschnitten hatte. Diesem Versuch setzte Fischer ein rigoroses Nein entgegen.

Aufgefallen war Fischer bis dahin auch der Fachwelt kaum. Nichts, was er bis 1958 geschrieben habe, so stellt verblüfft "The Blackwell Dictionary of Historians" (New York 1988) fest, habe dazu geführt, daß seine akademischen Kollegen auf ihn aufmerksam geworden wären. Er habe lediglich zwölf Jahre lang "unablässig Material für seine große Studie über die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg gesammelt".

1934 wurde Fischer, Jahrgang 1908, zunächst an der als besonders nationalistisch geltenden theologischen Fakultät in Erlangen zum Dr. theol. promoviert. 1938 schrieb er seine historische Dissertation in Berlin über das Thema "Moritz August von Bethmann Hollweg und der deutsche Protestantismus"; 1939 habilitierte er. In Berlin arbeitete Fischer bis zu seiner Übernahme einer a.o. Professur für Geschichte in Hamburg im Jahre 1942, während seines Militärdienstes, unter anderem am berüchtigten "Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands". Dieses Institut sah sich seit 1936 unter der Leitung von Walter G. Frank als führendes historisches Forschungsinstitut des Nationalsozialismus. Frank hatte es sich zur Aufgabe gemacht, antisemitische Kreise der deutschen Professorenschaft zusammenzufassen (bis 1942 wurden dort u.a. die berüchtigten "Forschungen zur Judenfrage" herausgegeben). Der frischgebackene Berliner Privatdozent Fischer wurde von Frank "kurzzeitig gefördert" (Georg Iggers, Geschichtswissenschaft, 1972). Über seine Mitarbeit an diesem Institut ist weiter nichts bekannt. 1948 wurde Fischer ordentlicher Professor für mittlere und neuere Geschichte in Hamburg und blieb dort, unterbrochen von mehreren Forschungsaufträgen und Dozenturen in den USA (1952–53, 1954, 1964–65) und in Großbritannien (1969–70) bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1973.

Für die entscheidenden Fragen, um die es Fischer eigentlich ging, war der Reichskanzler Bethmann Hollweg nur der Aufhänger. Es ging zunächst um die These, man sei nicht, wie es Lloyd George in seinen Erinnerungen schrieb, in den Krieg "hineingeschlittert", es ging um den Nachweis zunächst der deutschen Mitschuld – dies hätte auch damals keinen Skandal ausgelöst –, dann der deutschen Hauptschuld, schließlich – und das blieb in der öffentlichen Diskussion hängen – seiner Alleinschuld.

Die eigentliche Bedeutung von Fischers Thesen lag jedoch in der Einführung bzw. Neudefinition der Schlagworte der "Kontinuität" der jüngeren deutschen Geschichte und dem "deutschen Sonderweg", die bis heute einen zentralen Platz in der deutschen "Aufarbeitungs-Geschichte" behalten haben. Kontinuität, das hieß bei Fischer und seinen Nachfolgern die Kontinuität deutscher historischer Schuld seit 1870 von Bismarck über Bethmann Hollweg zu Adolf Hitler. Der deutsche Sonderweg, das hieß die Abwendung Deutschlands vom richtigen, westlichen Weg, die Ablehnung des revolutionären Prinzips in der Geschichte, die Skepsis gegenüber der amerikanischen und der französischen Revolution, die Hinwendung zur Romantik und zum Idealismus. Wollte man diese unheilvolle Kontinuität durchbrechen, mußte man vor allem die geistigen Grundlagen dieses deutschen Sonderwegs, den man als "Irrweg" der deutschen Geschichte erkannt hatte, bis in die Wurzeln zerstören.

Das Thema Bethmann Hollweg und die deutsche Kriegsschuld bildet sozusagen das missing link in dieser Argumentationskette. Dabei war die Kontinuitätsdebatte in der deutschen Historiographie nichts Neues, sondern nur eine Wiederaufnahme des Streits über die Rolle des preußisch-deutschen Militarismus zwischen Ludwig Dehio und Gerhard Ritter in den 50er Jahren.

Ritter war es denn auch, der Fischer antwortete. Ritter, ausgewiesener Gegner der Nationalsozialisten und Doyen der deutschen Nachkriegshistoriker, war über Fischers anti-deutschen Ansatz entsetzt: In der Historischen Zeitschrift (1962) beklagte er sich über Fischers "Selbstverdunkelung deutschen Geschichtsbewußtseins, das … die frühere Selbstvergötterung verdrängt hat und nun immer einseitiger sich durchzusetzen scheint". Eine Formulierung, die Ritter bereits 1948 gegen die Versuche Dehios, eine "Revision" des deutschen Geschichtsbildes durchzusetzen, benutzt hatte.

Inzwischen war auch Fischers Buch "Der Griff nach der Weltmacht" (1961) erschienen, der in der Öffentlichkeit einen Riesenwirbel verursachte. In diesem Buch, wie auch in allen späteren, untersucht Fischer praktisch nur die deutsche Seite. Grey? Poincaré? Iswolski? Das sind Namen, die in seinen Untersuchungen praktisch nicht auftauchen. Man könnte auch diesen Forschungsansatz durchaus billigen. Nur darf man dann nicht mit dem Anspruch auftreten, eine allgemeine Aussage über die Kriegsursache oder gar über die Kriegsschuld tun zu wollen. Es war der Kieler Historiker Michael Freund, der 1964 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung dieses Verfahren Fischers aufs Korn nahm: "JedeTat ist nur nach der Tat zu begreifen, auf die sie antwortet, jeder Staatsmann nur zu beurteilen nach seinen Gegenspielern. Aber Fischer spottet des Vergleiches. Er läßt das Deutsche Reich und Bethmann Hollweg eine Geisterpartie spielen, auf einem Schachbrett, auf dem nur die weißen Figuren sichtbar sind und auf dem daher nur ein ewiges Angreifen, Vordringen gegen ein unschuldiges Dunkel zu sehen ist. Auf dem Bildschirm Fischers wird gespensterhaft die Kralle des Reiches sichtbar, die nach der Weltmacht greift, in die namenlose Leere…"

Ein Aperçu blieb die sich 1983 wiederum in der Historischen Zeitschrift anschließende Diskussion um die von Karl-Dietrich Erdmann herausgegebenen Tagebücher des Bethmann Hollweg-Vertrauten Kurt Riezler, aus der von seiten der Fischer-Anhänger eine geradezu verschwörungstheoretische Literatur entstanden ist, um mit aller Macht erneut Bethmann Hollweg als Hauptkriegstreiber und Deutschland als Alleinschuldigen zu entlarven. Diese Auseinandersetzung hat sogar in die Belletristik Eingang gefunden. In seinem Roman "Campus" nimmt Dietrich Schwanitz darauf, allerdings eher in Form einer Farce, Bezug.

Fischers Forschungen – und nicht zuletzt leider auch seine selektive Arbeitsweise – bilden inzwischen die herrschende Lehrgrundlage an deutschen Universitäten. Die berechtigten Kritiken von Gerhard Ritter bis Golo Mann an diesem Ansatz sind praktisch marginalisiert. Der Begriff "Kontinuität" der jüngeren deutschen Geschichte ist inzwischen von einem – vorzugsweise von links gebrauchten –politischen Kampfbegriff zum Allgemeingut geworden.


 
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