© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/98  02. Oktober 1998

 
 
Kolumne
Neue Mitte
von Andreas Mölzer

Dankbarkeit ist keine politische Kategorie, das mußte Langzeitkanzler Helmut Kohl am vergangenen Wahlabend zur Kenntnis nehmen. Er, der 16 Jahre das Land regiert hat, es nolens volens, letztlich aber doch entschieden in die kleindeutsche Einheit führte und darüber hinaus – ganz gleich, wie man dies nun beurteilt – einem unumkehrbaren Prozeß der Europäisierung aussetzte, wurde einfach abgewählt. Der Sieger würdigte die Verdienste des Unterlegenen. Der scheidende Kanzler wünschte seinem Nachfolger eine "glückliche Hand" im Interesse des Landes. Mäßigung und Ritterlichkeit sprachen aus diesen Worten. Andererseits war genau dies ein Indiz dafür, wie wenig sich die großen politischen Gruppierungen voneinander unterscheiden.

Um diese "neue Mitte" geht es aber nun, wenn man Wahlen gewinnen will. Dies gelang diesmal der Sozialdemokratie und wohl insgesamt der Linken, wenn dieses politisch-gesellschaftliche Klischee überhaupt noch brauchbar ist. Wie sieht diese "neue Mitte" des Gerhard Schröder nun aus? Zum einen existieren in ihr zweifellos die Restbestände der klassischen Arbeiterbewegung: Industriearbeiter, Angestellte und Kleingewerbe, ein aus dem Proletariat aufgestiegenes Kleinbürgertum, das zwar sozialdemokratisch, aber im Grunde sehr wertkonservativ ist. Zum anderen gibt es den Typus des neuen linken Spießers, der, beeinflußt von der 68er-Bewegung, den politisch korrekten Zeitgeist vertritt, allen seichten Modeerscheinungen huldigt und nicht zuletzt im Bereich der Meinungsbildner dominant geworden ist.

Außerdem – und da sind sich die politischen Beobachter einig – gibt es die Protestwähler in den neuen Bundesländern, jene "Veränderungsverlierer", die von der deutschen Wiedervereinigung enttäuscht sind und diesmal Schröder und die SPD, oder zumindest links gewählt haben, indem sie für die PDS gestimmt haben.

Die SPD war ja immer eine staatstragende und berechenbare, überaus pragmatische politische Kraft. Unter Kurt Schumacher in der Nachkriegszeit war sie geradezu der patriotische Faktor in Deutschland. Nach der Aufbruchstimmung unter Willy Brandt kam die Ära Helmut Schmidts, der seinerseits im Geschichtsbild der Bundesdeutschen bis heute für vernünftige und überaus erfolgreiche Wirtschaftspolitik steht.

Die "neue Mitte", die im Deutschland Gerhard Schröders an die Macht gekommen ist, ist also linksdominiert – und das in einer Zeit, in der es im Grunde eine wertkonservative Renaissance gibt. Dies ist aber nur ein scheinbarer Widerspruch, wenn man bedenkt, daß geistig-kulturelle Entwicklungen erst mit einer Verzögerung von Jahrzehnten im tages- und parteipolitischen Bereich dominant werden.


 
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