© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Union: Die ehemalige Regierungspartei verliert dramatisch an Einfluß
Eine Partei packt ein
Dieter Stein

Die Unionsparteien haben am 27. September nicht "nur" die Bundestagswahl und das Amt des Bundeskanzlers verloren. Hinter dem Verlust der Bundestagsmehrheit für die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP sowie die Rückstufung der Union zur zweitstärksten Fraktion verbirgt sich ein größeres Desaster, als manche meinen. Es wird sich in den kommenden Monaten herausstellen, wie total der Sieg von Rot-Grün über die bürgerlichen Parteien war und welche Chancen sich Schröder, Fischer & Co. bieten, das Gesicht dieses Landes tiefgreifend zu verändern – wie, darüber wird man sich noch wundern. Doch die Voraussetzungen für die Politik der "neuen Mitte" sind großartig.

In Bonn herrscht nicht nur aufgrund des Umzugs von Parlament und Regierung 1999 allgemeines Kofferpacken. 16 Minister und Dutzende Staatssekretäre räumen jetzt ihre Sessel – sozial abgefedert durch Überleitungsgelder in Millionenhöhe (siehe auch Bericht auf Seite 9). Das betrifft auch die Ministerialdirektoren, politische Beamte in den Ministerien, die ebenfalls ausgetauscht werden.

Neben dem Bundestag befindet sich bereits seit Jahren der Bundesrat als zweites gesetzgebendes Gremium auf Bundesebene fest in der Hand der SPD – unter Führung des SPD-Vorsitzenden und saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine wurde hier die Steuerreform der Regierung Kohl ausgebremst. Nun hat Schröder hier freie Bahn. Ein Kippen der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat kann auf Jahre ausgeschlossen werden, eher wird es Rot-Grün gelingen, sie noch weiter auszubauen.

Im Frühjahr wird die Union auch das Amt des Bundespräsidenten verlieren. Der protokollarisch "Erste Mann im Staat" wird bisher mit Roman Herzog von der CDU gestellt – demnächst ebenfalls von der SPD. Dasselbe gilt für die im Protokoll nächststehende Funktion des Bundestagspräsidenten, der stets von der stärksten Bundestagsfraktion gestellt wird – also auch der SPD.

Nächstes Beispiel Richterwahl: Im Richterwahlausschuß befand sich die CDU schon bisher knapp in der Minderheit – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Besetzung von Richterposten. Der Ausschuß setzt sich aus den Justizministern der Länder (nur zwei werden hier von der Union gestellt) und Vertretern des Bundestages zusammen. Durch den weiteren Rückgang der vom Bundestag für die Union gestellten Mitglieder des Ausschusses nach der Wahl baut Rot-Grün nun auch hier seine Mehrheit aus. Dies wird nachhaltige Auswirkung auf die Rechtssprechung der Obersten Gerichte Deutschlands haben.

Eine Neubesetzung steht auch beim Bundesverfassungsgericht im Frühjahr an. Durch das vorzeitige Ausscheiden der Verfassungsrichterin Helga Seibert (SPD) aus Gesundheitsgründen wird ein Platz frei, der nun voraussichtlich erstmals von einer grünen Richterin besetzt werden wird. Es ist kaum denkbar, daß das Bundesverfassungsgericht in Zukunft an politischer Neutralität gewinnen wird, zahlreiche neue umstrittene Urteile – wie schon das Kruzifix-Urteil von 1995 – sind zu befürchten.

Angesichts dieser phantastischen Voraussetzungen zur nachhaltigen Etablierung sozialdemokratischer und grüner Macht in Deutschland und zur Umgestaltung der Republik auf allen Ebenen im Sinne rot-grüner Programmatik ist es kaum zu erwarten, daß sich Schröder seines Rufes als "Volkskanzler" bewußt wird, der nicht wegen, sondern trotz seiner SPD-Zugehörigkeit eine so hohe Zustimmung erfuhr, und sich an die Beschneidung des Einflusses der Parteien in der Bundesrepublik und die Reform des Parteienstaates macht.

Die Union könnte – dieses Beispiel vor Augen – aus begangenen Fehlern lernen. Wenn sie denn will. Da sie aus der Verantwortung des Bundes auf allen Ebenen herausgeflogen ist, müßte sie mit einem radikalen Umbau auf allen Ebenen in der eigenen Partei beginnen. Diese Krise ist eine Sanierungschance für die Union. Sie müßte – bevor mit Personalwechseln drittklassiger Güte zur Tagesordnung übergangen wird – zu einer radikalen Analyse kommen, weshalb die Chance einer gesellschaftspolitischen Wende in Deutschland während 16 Jahren CDU-Regierung verschenkt worden ist. Warum die Sozialdemokraten bereits geistig und politisch an der Macht waren, lange bevor die Regierung Kohl abgewählt war. Der Impuls dazu kann wohl nur von der Basis und von außen kommen.

Doch es bedarf womöglich erst noch einer zweiten Wahlschlappe 2002, damit die CDU endgültig aufwacht.


 
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