© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Europas Sozialisten: Pragmatismus statt Grundsätze
Neue MTV-Linke
Alain de Benoist

Der erwartete Sieg von Gerhard Schröder nach sechzehn Jahren Opposition der SPD läßt die Anzahl der linken oder linksliberalen Regierungen in der EU auf 13 anschwellen. Die einzigen Ausnahmen bilden Irland und Spanien. Es ist außerdem das erste Mal seit 1945, daß die vier großen Nationen der Union, Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien von linken Mehrheiten regiert werden. Man ist versucht zu sagen, daß eine derartige Situation es rechtfertigen würde, von einer historischen Niederlage der Rechten zu sprechen. Tatsächlich kennzeichnet dieser Sieg einen Sieg der neuen Linken über die alte. Diese neue Linke wird repräsentiert von Tony Blair, von Bill Clinton (der auf Blair einen entscheidenden Einfluß ausgeübt hat), von Romano Prodi, von Gerhard Schröder (der während des Wahlkampfes ständig als "deutscher Tony Blair" präsentiert wurde) oder in Frankreich von Dominique Strauss Kahn oder Laurent Fabius. Was charakterisiert sie alle?

Die Identität der Sozialdemokratie, verwurzelt in den "Revisionen" des Marxismus und des klassischen Sozialismus des späten 19. Jahrhunderts, hing direkt mit ihrem politischen Nachkriegs-Umfeld zusammen. Der Zusammenbruch des Sowjet-Systems, der Anstieg der Arbeitslosigkeit, die steigende Unfähigkeit der nationalen Regierungen und das Verschwinden jedweder wirkungsvollen Barriere gegen die weltweite Mobilität des Kapitals hat den politischen Anspruch der Sozialdemokratie zusammenbrechen lassen. Das Ideal des fürsorgenden Sozialstaats (Verstaatlichungen, zentrale Planung auf der Grundlage der Vollbeschäftigung, Steuergerechtigkeit, soziale Umverteilung, eine starke Gewerkschaftsbewegung) wird heute von allen Seiten angegriffen. Die neue Linke muß feststellen, daß der Kontext und die Grundlagen, auf denen die Sozialdemokratie beruhte, aufgehört haben zu existieren.

Die neue Linke sieht sich selbst als absolut "pragmatisch". Von daher muß man es verstehen, daß sie bereit ist, das eigentlich Wesentliche ihrer Prinzipien über Bord zu werfen und alles mögliche zu akzeptieren, damit der "Laden läuft". Seit seinem Sieg im Mai 1997 ist Tony Blair das eklatanteste Symbol dieser Tendenz, zumal er der mächtigste Repräsentant der Linken in der Welt ist und nach seinem beispiellosen Wahlsieg über eine Mehrheit verfügt wie kein anderer demokratisch gewählter Regierungschef. Das "blairistische" Experiment sieht sich selbst gern als "jung", "realistisch", "effizient", "dynamisch" und "modern, verdankt aber tatsächlich seine ganze Originalität der unbekümmerten Infragestellung von nahezu allen Punkten des eigenen Parteiprogramms: der Preisgabe jeglicher "klassistischer" Visionen der Politik, Bruch mit den alten Interessen, Zurückweisung von Verstaatlichungen, Verringerung öffentlicher Ausgaben, Zurückführung des Staates, Flexibilität der Arbeit, Ersatz der Logik von welfare durch workfare.

Aber zur gleichen Zeit hat die neue Linke die Thematik der Globalisierung und der Menschenrechts-Ideologie mit der Vorstellung der Effektivität verknüpft, die sich heute rund um die Abschaffung aller politischen Grenzen gruppiert und deren Zauberworte Wettbewerbsfähigkeit, Flexibilität und Deregulierung sind, ein wahrhaft gemeinsames Programm der industrialisierten Länder, und sie hat aus dem Markt ein universelles Bezugsmodell geschaffen. Ausdrücklich gibt es, wie Tony Blair – und übrigens auch Gerhard Schröder – gesagt hat, keine linke oder rechte Ökonomie, sondern nur eine moderne und gut organisierte. Blair und Schröder gehören damit, unter Ablehnung jeglicher Ideologien, selbst einer Ideologie an, die den Markt als Paradigma der Moderne postuliert. Eine verräterische Position, die vorgibt, daß die Organisationsprinzipien einer Wirtschaft unantastbar und ahistorisch seien, und behauptet, daß die Zeit des Politischen vorbei sei.

"Die Politik handelt durch die Medien, und das Fernsehen ist die beste Form der Werbung", erklärte Blair 1987 in der Times. Ebenso wie sie mit den klassischen egalitären Prinzipien gebrochen hat, um sie durch Normen der Gerechtigkeit zu ersetzen, die sich je nach lokalen Kontexten auch ändern können, setzt die neue Linke den Akzent heute eher auf die sozialen als auf die materiellen Beziehungen.

Das Wall Street Journal hat sehr treffend von einer "MTV-Linken" gesprochen, um jene Linke zu kennzeichnen, die man auch die radikale oder extreme Mitte genannt hat. In der Tat handelt es sich um eine linke postmoderne Mitte, die nicht zögert, genuin liberale Positionen zu übernehmen. Der Aufstieg dieser linken Mitte macht heute den Platz frei für eine weiterbestehende Linke und für all jene, die sich noch immer weigern, die Sozialistische Internationale in eine "Demokratische Internationale" umzuwandeln. Diese linke Mitte droht andererseits, auch die klassische Rechte zu marginalisieren, von der sie das Programm übernimmt und sich darauf beschränkt, lediglich eine kleine "Dosis Herz" hinzuzufügen. Von daher stammt ihr Gleichklang mit den Grundlinien unseres Zeitgeistes.


 
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