© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Literaturkritik: Bedeutung und Wirkung von Marcel Reich-Ranicki
Sachwalter des Eigenen
Andrzej Madela

Als er 1958 Polen unvermittelt in Richtung BRD verlassen hatte, war die Erleichterung über den Weggang groß und die Verwunderung über das Reiseziel nicht minder. Noch Wochen zuvor hatte er ordentliche Professoren und unordentliche Kulturredakteure das Fürchten gelehrt. Zwischen 1950 und 1957 hingen an seinen Deutungen buchstäblich Lehrpläne und Lebensläufe. Die Aufsätze in der Trybuna Ludu waren für jeden Germanistikstudenten Pflichtlektüre und sein opulentes Hauptwerk, die gefeierte "Deutsche Literatur 1871–1954" (1955), einfach das Standardwerk schlechthin.

Bei solchen Verhältnissen war ein Sturz aus den lichten Höhen kulturpolitischer Prominenz hinab unters publizistische Fußvolk eine Katastrophe. Daß Marceli Ranicki aber ausgerechnet Westdeutschland als Reiseziel gewählt hatte, mochte nicht jedem auf Anhieb einleuchten. Schließlich attestierte er nur wenige Jahre zuvor der Nachkriegsliteratur seines Ziellandes eine Fortsetzung des literarischen Faschismus. Auch der junge Böll bekam sein Fett weg – wegen korrumpierten Zynismus, der den Hauptgegensatz der Epoche zweckdienlich verschleiere (Trybuna Ludu, Nr. 28/1957). Wesentlich besser schnitt bei ihm die entstehende DDR-Literatur ab. Hier mündete die fortschrittliche Strömung deutscher Gegenwart und setzte das wirklich befreite Schaffen eines werktätigen Volkes ein ("Wege durch die Nacht", 1951).

40 Jahre nach seiner Ankunft im Westen ist indes der zu Marcel Reich-Ranicki Mutierte erfolgreicher, als er es je zuvor war, sein realdogmatisches Vorleben eingeschlossen. Spiegel, FAZ und Die Zeit überbieten sich im Drucken seiner Artikel. Selbst ein Verriß aus seiner Feder steigert die Auflage eines völlig mißratenen Buches in ungeahnte Höhen. Und, als Sahnehäubchen: "Das literarische Quartett" erreicht unter seiner Führung Einschaltquoten von bis zu vier Millionen Zuschauern – ein Traum für Ilona, Verona und Bärbel in ihrem Gerenne zwischen Körperschweiß und Frittenfett.

Der Erfolg Reich-Ranickis liegt in der Kontinuität, die der einstige Literaturdogmatiker in die bundesrepublikanische Welt hinübergerettet hat. Werkstatt und Methode haben beide – Marceli und Marcel – aus den realsozialistischen Kunstdebatten der 30er und 40er Jahre bezogen. Hatte schon der Trybuna Ludu-Autor panoramaartig angelegte Gesellschaftsromane bevorzugt, so stand ihm der FAZ-Artikler in seiner Vorliebe für "Die Buddenbrocks" in nichts nach. Eine geschichtliche Totale war bereits dem Jüngeren ein Ausweis ästhetischer Qualität; dem entspricht der um 30 Jahre Ältere, als er Uwe Johnsons "Jahrestage" für die mustergültige Chronik deutschen Lebens zwischen Machtergreifung und Wirtschaftswunder lobt. Sprachspielerische, gar experimentelle Literatur hat Marceli nicht gemocht, weil sie ihm den Hauptgegensatz der Epoche überspielte; der um einiges reifere Marcel gibt hierfür eine Verzettelung in postmoderner Beliebigkeit als Grund an.

Es ist ein Glücksfall für das ZDF, daß Ranickis persönliche Vorliebe und Publikumsgeschmack so deckungsgleich sind; gerade vorgestrige Methode und heutige Abneigung gegen Experimente verbürgen seinen medialen Erfolg. Ranickis Publikum ist ein Massenpublikum. Das kommt zwar mit einiger Bildung daher, aber kaum von einem Proseminar über postmoderne Epik; dessen Unbedarftheit in Sachen Literatur verlangt geradezu danach, daß einer kraft seiner Kenntnis und Autorität unmißverständlich Klarheit schafft. Was andere in dickleibigen Lebenswerken bis ins letzte Detail zerreden, bringt er in drei Minuten auf den Punkt.

Der (entschärfte) Realdogmatiker und sein Publikum – sie kommen sich nicht nur im Ruf nach einem klaren Urteil nahe. Naturgemäß wird den vier Millionen kein sprachliches Dauerexperiment ohne Plot und Action zu verkaufen sein. Selbstreflexive, tief verinnerlichte Prosa ist hier megaout – statt dessen empfiehlt Reich-Ranicki Romane mit durchgehender Fabel, deutlichen Figuren und kompakter Action. Im Zweifelsfall erfährt der Zuschauer, daß literarische Konfekionsware von der Stange gut, wenn nicht gar besser ist als ein Experiment. Letzteres läßt sich meist schwer einordnen und irritiert nur; das Lob wird er in diesem Fall Siegrid Löffler überlassen.

In den 40 Jahren als gestrenger Literaturrichter hat sich Ranicki nahezu ausnahmslos über deutschsprachige Werke ausgelassen und neumodische Strömungen aus Übersee mit Nichtachtung gestraft. Das hat ihm bei seinem Publikum den uneinholbaren Vorteil verschafft, als Sachwalter des Eigenen zu fungieren. Was ihm die Konkurrenz als Verbohrtheit (böswilliger auch: als Unkenntnis) auslegt, münzt er in Pluspunkte für sich um: Zuerst kommt Uwe Johnson, dann lange nichts und erst zum Schluß der amerikanische Schnickschnack.

Mag sein, daß auch zusätzliche Momente des "Literarischen Quartetts" seinen Erfolg festigen. So sind Reich-Ranickis cholerische Veranlagung und ihre nur mühsam gemeisterte Beherrschung ein geradezu explosiver TV-Stoff. Das blind eingespielte Tandem Ranicki/Karasek wirft sich gekonnt imaginäre Bälle zu, der Schüler Karasek tanzt kurzzeitig aus der Reihe, um just in dem Moment wieder zur Stelle zu sein, wenn Siegrid Löffler zu einer unvermeidlichen Tirade aus austriakischer Rechthaberei und reichlich verspätetem Feminismus ansetzt.

Für spannungsvolle Abläufe steht auch die imaginäre Rolle des Zuchtmeisters – eine Funktion, die Reich-Ranicki gleichzeitig wahrnimmt und unablässig spielerisch konterkariert. Nicht zuletzt ist es die knappe Struktur einer Gerichtsverhandlung mit Ankläger, Verteidiger und Richter, die dem "Quartett" einen effektvollen Kick gibt.

Was im Fernsehen noch als gespieltes Richteramt augenzwinkernd unterlaufen wird, nimmt Reich-Ranicki in seinen Büchern völlig ernst.

Unvergessen sind seine Kritiken aus den sechziger Jahren, da er über "Deutsche Literatur in Ost und West" (1963) förmlich zu Gericht saß und Köpfe rollen ließ. In mindestens zwei Büchern – "Literatur der kleinen Schritte" (1972) und "Lauter Verrisse" (1973) – traf er den Geschmack des Publikums ins Schwarze, als er die überbordende Politisierung von Literatur bei Schriftstellern wie Günter Grass, Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger als intellektuelle Kapitulation diagnostizierte und die Besinnung auf Tradition als Heilmittel empfahl.

Der Literaturrichter führte aber auch etliche Male vor, wie kostbar die von ihm ausgefüllte Funktion sein mag. Als er 1977 den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mitbegründete, wollte keiner so recht glauben, daß dieser Literaturwettbewerb unter seiner Regie – Reich-Ranicki war von 1977 bis 1988 Sprecher der Jury – jungen Talenten gut bekäme. Heute wäre die deutsche Gegenwartsliteratur ohne Sten Nadolny, Friederike Roth und Uwe Saeger nur halb so viel wert.

Ähnlich verhielt es sich bei der "Frankfurter Anthologie", einem mittlerweile auf mehrere Bände angewachsenen Projekt moderner Lyrik, ohne das heute keine Germanistik auskommt.

In den vergangenen Jahren hat Reich-Ranicki seine Lobeskünste erheblich verfeinert und so selbst einen Unbequemen wie Bernhard zu einem modernen Klassiker gemacht ("Thomas Bernhard", 1990). Doch bei aller Beweihräucherung einst sperriger Werke ist es immer noch der Verriß, den er wie kein anderer Literaturkritiker beherrscht.

Zu absoluter Hochform läuft er auf, wenn ein Autor als Meister der Figurenzeichnung gilt und ausgerechnet diese am dünnen Faden des Gutmenschentums hängt. Unvergessen seine furiose Kritik an Grass’ Roman "Ein weites Feld", unvergessen auch seine Rundumschläge Ende der achtziger Jahre, als er der Flakhelfergeneration attestierte, sich intellektuell im Windschatten von Bonn verausgabt zu haben.

Das ZDF hat mit dem wortmächtigen Marcel Reich-Ranicki einen seltenen Glücksfall erlebt, der seit nunmehr zehn Jahren von Sendung zu Sendung vorzeigbare Literatur mit hohem Unterhaltungswert verkaufen kann. Auf den ersten Blick scheint es, als wäre der 78jährige damit auf dem Gipfel seiner Popularität und – wichtiger noch –seiner Wirksamkeit angekommen.

Ob dem wirklich so ist, mag mit guten Grund bezweifelt werden. Freilich erreicht er heute Millionen – ein Umstand, der ihm als Zeit-Redakteur (1960–1973) und Leiter der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen (1973–1988) nicht gegeben war. Allerdings sind seine Fernseh-Urteile, eingebunden in kurzfristige Prozesse medialer Verwerfung, nur noch für ein Massenpublikum von Interesse. Seinen Einfluß auf die stilbildende Meinung in den Feuilletonstuben hat der Großkritiker eingebüßt.

Das war einmal anders. Als er in "Lauter Verrisse" Urteile fällte, hing noch eine ganze Generation von Intellektuellen an seinen Lippen. Seine Rezensionen hatten ebenso weitreichende wie schwerwiegende Folgen für jeden Kulturteil, von den Literaturverlagen ganz zu schweigen. Böll, Grass, Walser und Siegfried Lenz wären ohne seine begleitende Arbeit heute vielleicht nur dritte Garnitur. So ist Reich-Ranickis Schicksal als Kritiker untrennbar mit dem schriftstellerischen Auf und Ab vor allem jener Autoren verbunden, die als Generation in den fünfziger Jahren debüttierten.

Seitdem ist viel Zeit vergangen. Jüngere Autoren berherrschen heute die Szene. Ranickis Urteil ist für sie unmaßgeblich, als Hilfe nicht erwartet, als Hindernis unbedeutend. So schleicht sich in die Einschaltquote ein Verfall der Wirksamkeit ein, den das Massenpublikum (noch) nicht wahrnimmt.


 
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