© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/98  09. Oktober 1998

 
 
Jürgen Habermas: Der Theoretiker der Diskursethik wird eigenen Ansprüchen nicht gerecht
Heilsbringer aus Gummersbach
Ernst Topitsch

Mitunter ergibt sich die Gelegenheit, nach Jahrzehnten auf Diskussionen zurückzukommen, die vermeintlich längst in die Vergangenheit zurückgesunken sind. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Habermas in der Zeit um 1962/63, als wir in Heidelberg Kollegen waren. Als er seine Kritik an der wissenschaftlich-industriellen Dynamik entwickelte, lag mir die Bemerkung auf der Zunge, das alles erinnere mich an die Auffassungen klerikaler Restaurateure. Da ich damals als Aufklärer die "Frankfurter" noch für Verbündete hielt, schluckte ich die Bemerkung herunter, was Habermas zu der Glosse veranlaßte: "Redliche Positivisten, denen solche Perspektiven das Lachen verschlagen…". Nun hat es mir damals nicht das Lachen verschlagen, vielmehr hatte ich noch nicht erfaßt, daß ich keinem Aufklärer, sondern einem Heilsbringer gegenübersaß, dessen geistiger Hintergrund bis in den Gummersbacher Pietismus zurückreicht.

Um welches Heil es sich handeln sollte, hat Habermas dann in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung 1965 eher kryptisch angedeutet. Es ginge darum, auch nach dem Auslaufen der großen philosophischen Traditionen auf den Trümmern der einstigen Ontologie die Einsicht zu bewahren, "daß die Wahrheit von Aussagen in letzter Instanz an die Intention des wahren Lebens gebunden ist". Unbeantwortet bleibt hier wie anderswo die naheliegende Frage, worin angesichts der Vielzahl historisch gegebener Lebensideale das "wahre Leben" besteht, wieso Habermas um dieses weiß und wie man sich die Bindung der Wahrheit von Aussagen daran vorstellen soll. Aber der Philosoph verfügt eben nach alter Tradition über ein "Vernunft"-Wissen um das wahrhaft Gute und die wahre Wahrheit (oder in metaphysisch-theologischer Formulierung um die Einheit von Sein, Wahrem, Gutem und Schönem) und braucht sich von dem verblendeten und verblendenden "Verstandes"-Wissen der empirischen Wissenschaften nicht dreinreden zu lassen, die ohnedies zusammen mit der Technik nur "Ideologie" sind.

Sprache war immer auch ein Herrschaftsinstrument

Diese angebliche Ideologiehaftigkeit suchte Habermas durch die Behauptung akzeptabel zu machen, daß jene Wissenschaften die ihnen zugrundeliegenden "erkenntnisleitenden Interessen" nicht "reflektieren". Was freilich über jene Interessen gesagt wird, kann vom empirischen Standpunkt nur zwischen "schlicht falsch" und "grotesk falsch" eingestuft werden. Doch das braucht den Philosophen nicht zu stören, da er nicht empirisch, sondern "transzendental" argumentiert, und vor diesem Imponierwort geht der Deutsche unweigerlich in die Knie. In der gebotenen Kürze sei nur das groteske Beispiel erwähnt: "Das Interesse an Mündigkeit schwebt nicht bloß vor, es kann a priori eingesehen werden. Das, was uns aus Natur heraushebt, ist nämlich der einzige Sachverhalt, den wir seiner Natur nach kennen können: die Sprache. Mit dem ersten Satz ist die Intention eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausgesprochen". Nun gibt es schon in den Formen der Kommunikation unter höheren Tieren zahlreiche Beispiele für Machtdurchsetzung und Lüge, und wir Menschen können mit unserer Sprache dergleichen noch viel raffinierter betreiben. Diese war wohl schon vom Anfang an eines der wichtigsten und am schwierigsten als solches durchschaubaren Herrschaftsinstrumente und ist es seither geblieben, man denke nur an die Lingua Tertii Imperii. Schimmert hier etwa der Gedanke durch, hinter dem Schleier einer angestrengten Rhetorik der Mündigkeit die Entmündigung der Menschen zugunsten jener durchzusetzen, die behaupten, das Rätsel des "wahren Lebens" gelöst zu haben?

Aus diesen Ansätzen hat sich dann eine "Diskursethik" entwickelt, die das Problem der "wahren Gerechtigkeit" lösen und das oft hinter moralisierenden Argumenten wirksame Machtproblem verschleiern oder hinwegeskamotieren sollte. Die neueste, etwas ausgedünnte Version hat Habermas jüngst in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (2/98) veröffentlicht. Auch hier soll – in der Nachfolge uralter Mythen von der "Himmelsstadt" und jener des Kantischen mundus intelligibilis – eine "moralische Welt" entworfen werden, in der die sittliche Maxime zur diskursiven Prüfung ihres Universalitätsanspruchs allen anderen Mitgliedern vorzulegen ist. Dabei gehören zu den notwendigen Argumentationsvoraussetzungen die vollständige Einbeziehung der Betroffenen, die Gleichverteilung von Argumentationsrechten und -pflichten, die Zwanglosigkeit der Kommunikationssituation und die verständigungsorientierte Einstellung der Teilnehmer. Unter diesen Voraussetzungen sollen dann die besten Argumente zum Zuge kommen und das jeweils bessere Argument den Ausschlag geben. Nun passen solche Gedankengänge zwar gut zu der Vorstellung einer Gemeinschaft der Heiligen, wie sie Habermas und sein Freund, der Historiker Hans-Ulrich Wehler wohl aus dem Gummersbacher Pietismus mitgebracht haben, eventuell auch in Sarastros Freimaurertempel. Doch wie so etwas in der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität verwirklicht werden kann, bleibt ein Mysterium, und wenn gar erst der imaginäre Universalkonsens darüber entscheidet, welche Argumente als die besseren anerkannt werden sollen, erhebt sich der Irrealismus zur Potenz, und das ganze Räsonnement ist ähnlich nichtssagend wie etwa die Leerformeln des scholastischen Naturrechts. Zugleich stellt sich aber die Frage, ob nicht etwas weit Realeres dahinter steckt.

Nun habe ich schon unter dem Titel "Machtkampf und Humanität" in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. November 1970 davor gewarnt, daß "emanzipatorische" Schlagwörter wie "rationale Diskussion" oder "herrschaftsfreier Dialog" sehr leicht zur Tarnung und Waffe von Herrschaftsansprüchen werden und die Prophetien vom "Reich Gottes auf Erden" zur Errichtung von totalitären Systemen führen können. Habermas hat darauf eher pikiert geantwortet, und ich habe mich anderen Themen zugewandt. Inzwischen ist er aber selbst nachgerade zu einem Schulbeispiel dafür geworden, wie aus einem Schleier herrschaftskritischer Phrasen eindeutige Herrschaftsansprüche hervorbrechen können. Grundsätzlich lauert aber hinter alledem die alte Problematik der "Gottesreiche". Wer sich der Gemeinschaft der Heiligen versagt, brandmarkt sich dadurch zum Unheiligen, und wen Sarastros Lehren nicht erfreuen, "verdienet nicht, ein Mensch zu sein". Ob Habermas diese Fatalitäten und damit seine eigenen "erkenntnisleitenden Interessen reflektiert" hat, ist mir nicht bekannt.

Fast in der Regel wird nämlich die erwähnte Problematik verdrängt, doch sie tritt in der "Stunde der Wahrheit" massiv zutage, nämlich wenn die Machtfrage gestellt wird. Da lösen sich die "emanzipatorischen" Erbaulichkeiten schlagartig in nichts auf, beispielsweise wenn es in dem von Habermas 1986 entfachten "Historikerstreit" bezüglich der "Einzigartigkeit" der Naziverbrechen um die "Meinungsführerschaft" und die "kulturelle Hegemonie" geht. Nun ist von "herrschaftsfreiem Diskurs", von "Gleichverteilung von Argumentationsrechten und -pflichten", von "Zwanglosigkeit der Kommunikation" oder gar von "verständigungsbereiter Einstellung" keine Spur. Höchst aufschlußreich ist es auch, mit welchen Mitteln sich der Heilsbringer und seine Anhänger die "besseren Argumente" verschafften. Darüber hat der Bremer Historiker Imanuel Geiss zwei ungemein aufschlußreiche, aber erwarteterweise weitgehend totgeschwiegene Bücher veröffentlicht. "Die Habermas-Kontroverse" (1988) und "Der Hysterikerstreit" (1992).

Politische "Wahrheiten" sollen durchgesetzt werden

Dabei ging es nicht um die Bekämpfung wirklicher rechtsradikaler oder gar neonazistischer Tendenzen, sondern um die Durchsetzung der erwünschten "politischen Wahrheiten" und die zumindest publizistische "Hinrichtung" einiger Historiker, die sich dem Machtanspruch der Heilsbringer nicht beugten. Da werden dann – besonders bei dem mit Habermas von Jugend auf befreundeten Wehler – die Schalen apokalyptischen Zornes über die Häupter der Unheiligen ausgegossen und der Bannstrahl zuckt auf die Renegaten und die verstockten Sünder wider den Heiligen Geist hernieder – wohlgemerkt, unter dem Titel der "Aufklärung". Geiss bringt dazu eine Blütenlese aufschlußreicher Ausdrücke aus dem Vokabular der "Gerechten". Er bringt auch augenöffnende Beispiele für die "Habermas-Methode", mit der sich die selbsternannten Bannerträger der wahren wissenschaftlichen und politischen Moral ihre "überlegenen Argumente" verschaffen, nämlich durch massive Manipulation von Zitaten, maligne Unterstellungen und unbegründete Verdächtigungen. Dazu schreibt Geiss: "Wer sonst so betulich vom ‘Diskurs’, gar demokratischem, von politischer Kultur, Moral und Aufklärung spricht, sollte wenigstens das Minimum sachlicher Diskussionsbereitschaft aufbringen, ohne das weder Demokratie noch freie Wissenschaft überleben können". Und abschließend: "Selten hat ein Philosoph seine eigenen schönen Theorien mit der eigenen Praxis so prompt und schlagend widerlegt wie Habermas im Historikerstreit – noch ein ‘Gott der keiner war’ und ‘trog’". So erhebt sich nicht nur die Frage, ob das ganze Gerede von Diskurs, Konsens, Demokratie und Aufklärung wissenschaftlich ernst zu nehmen, sondern auch, ob es überhaupt ernst gemeint ist und nicht nur ein Strategem zur Erringung der kulturpolitischen Hegemonie, zur Usurpation der Stellung eines Praeceptor Germaniae.

Das alles spielte – und spielt – sich aber auf dem Hintergrund einer "Zeitgeschichte" ab, in der weithin das moralisierende Anathema das wissenschaftliche Sachargument übermächtigt hat. Es gilt oft geradezu als sündhaft, darauf hinzuweisen, daß die Wehrmacht am 22. Juni 1941 in einen weit fortgeschrittenen sowjetischen Großaufmarsch hineingestoßen ist, der nach seinem Abschluß gute Chancen eröffnet hätte, das deutsche Ostheer in Polen und Ostpreußen zu vernichten und sich so den Weg zum Atlantik zu bahnen. Aber mit dem Zusammenbruch eines seiner Grundpfeiler könnte das ganze Gebäude der konformistischen "Zeitgeschichte" ins Gleiten kommen, und dem gilt es durch ein striktes Tabu vorzubeugen. Eine Atmosphäre struktureller Verlogenheit macht sich hier vielfach fühlbar.

 

Prof. Dr. Ernst Topitsch lehrte Philosophie an den Universitäten Heidelberg und Graz. Er führte Anfang der sechziger Jahre den "Positivismusstreit in der deutschen Soziologie" mit Karl Popper und Jürgen Habermas, der erste Wissenschaftlerstreit, der von Habermas ausgelöst wurde.


 
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