© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/98  16. Oktober 1998

 
 
Walser-Rede: Gegen die ritualisierte Schuld
Inneres Gewissen
Klaus Hornung

Da saßen sie, die deutsche Prominenz aus Kultur und Politik, die vielen klugen Gesichter aus Verlagen und Buchhandel, als ob sie selbst Erfolgsschriftsteller seien. Mit dem Fortschreiten der Rede des diesjährigen Friedenspreisträgers des Deutschen Buchhandels wuchs das Unbehagen auf manchen Gesichtern, wagte der Redner doch, die Stickluft des selbstgerechten Tugendterrors wegzublasen, für die nicht wenige jener verantwortlich sind, die in der Paulskirche "öffentlichster Öffentlichkeit" vor ihm saßen. Das Mienenspiel etwa der Bundesverfassungsgerichtspräsidentin sprach Bände, als deutlich wurde, daß der Schriftsteller entschlossen war, seine Philippiken gegen die "Herbeter, Abfrager, Insgewissenredner" der Political Correctness fortzusetzen, die er mit seiner Rede über Deutschland 1987 begonnen und dann bei der Verleihung des Dolf-Sternberger-Preises 1994 mit seiner Lesung "Über freie und unfreie Rede" fortgeführt hatte. Schon damals hatte er die bei uns herrschende "Machtausübung, die sich als Aufklärung versteht" gegeißelt und jetzt hallte erneut sein rechschaffener alemannischer Zorn über die "Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken" durch den ehrwürdigen Raum, die Warnung davor, Auschwitz als "jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule" zu mißbrauchen.

Am Tag der deutschen Einheit 1995 hatte Estlands Präsident Lennart Meri der deutschen "Canossarepublik" den Spiegel vorgehalten und sie angedonnert: "Wenn man die Moral zur Schau trägt, riskiert man, nicht ernst genommen zu werden. Man kann einem Volk nicht trauen, das sich rund um die Uhr in intellektueller Selbstverachtung übt." Jetzt kam der Donner gegen diese verächtliche Art von Ritualisierung angeblich kollektiver Schuld zu einer Art "Lippengebet" aus berufenem deutschen Mund. Hatte Botho Strauß von der "erstickenden satten Konvention des intellektuellen Protestantismus, diesem einzigen geistigen Orginalerzeugnis der Bundesrepublik" gesprochen, so machte Walser nun auf die kontraproduktiven Konsequenzen dieses Erzeugnissen aufmerksam.

Das hinderte eine ältere Dame unseres TV-Infotainments indes nicht, am Abend der Walser-Rede dem Preisträger mit den üblichen betulichen Fragen entgegenzutreten: "Was wollen sie eigentlich? Fürchten sie nicht den Beifall von der falschen Seite?" Im Gesicht des Mannes vom Bodensee begann es zu mahlen: Haben sie noch immer nichts begriffen? Wann stoßen sie denn endlich an die Schamgrenzen ihres Metiers? Aber sie hatten nur zu gut begriffen, daß es dem Schriftsteller ganz einfach darum geht, jene moralische und intellektuelle Überheblichkeit großer Teile unseres Medienpersonals niedriger zu hängen, die "mit vorgehaltener Moralpistole den Schriftsteller in den Meinungsdienst nötigen". Es geht um die Borniertheit jener Nachgeborenen, die vom historischen Rathaus kommen und doch mit den ersten 45 Jahren des 20. Jahrhunderts in den eigenen Köpfen nicht umgehen können, aber ganz genau zu wissen glauben, wie alle anderen, die damals lebten, hätten handeln sollen.

Martin Walser nimmt mit seiner Abwehr dieses Treibens veröffentlicher Meinung, die sich als Gewissen der Gesellschaft versteht, auch eine Aufgabe wahr, mit deren Erfüllung uns die meisten Historiker im Stich lassen: Geschichte nicht nur von ihren Ereignissen her zu erkennen und zu beurteilen, sondern auch aus ihren an der jeweiligen Stirnseite offenen Situationen, also so wie sie die handelnden und leidenden Menschen selbst erlebt haben und nicht so, wie sie die Nachgeborenen ausschließlich zu sehen wünschen. Wer jedenfalls von der prinzipiellen sittlichen und intellektuellen Minderwertigkeit unserer Altvorderen ausgeht und dem pausbäckigen Optimismus huldigt, es im Gegensatz dazu unendlich weit gebracht zu haben, der verfehlt das Wesen der Geschichte und des Menschen zugleich. Solche Leute vermögen ja nicht historisch zu sehen und sich zu fragen, was wohl künftige Generationen über sie selbst sagen werden. Walser brachte die eigentlich sittliche Folgerung unerbittlich auf den Punkt: "Ist nicht jeder ein Fließband der unendlichen Lüge-Wahrheit-Dialektik? Nicht jeder ein von Eitelkeit dirigierter Gewissenskämpfer?"

Von sittlichem Fortschritt können wir in Deutschland jedenfalls erst dann sprechen, wenn Martin Walsers in der Paulskirche lauthallender Ruf gehört würde: "Unsere Dichter und Denker sollen nicht als Gewissenswarte der Nation auftreten." Das Gewissen ist innen und kann von den Moralpistolen nur ruinert werden. Öffentliche Gewissensheuchelei muß die Gewissen der einzlelnen zum Verdorren bringen. Was Leute anrichten, die sich für das Gewissen anderer in Form eines Holocaust-Denkmals in Berlin verantwortlich fühlen, kann auch die Furcht im Lande bannen, der 27. September könnte eine Ära des Konformitäts- und Gesinnungsdrucks unter rot-grünen Vorzeichen einläuten.


 
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