© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/98  16. Oktober 1998

 
 
Erwiderung auf Martin Walser: Horst Mahler über Holocaust, GULag und die RAF
Annahme und Bewährung
von Horst Mahler

Durch Martin Walsers Paulskirchenrede ist bisher Unsichtbares sichtbar geworden: die moralische Weltanschauung als geistiges Besatzungsregime. Um es durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, bedurfte es nur anfänglich militärischer Mittel. Sie wurden bald von kollaborationswilligen Intellektuellen abgelöst, die bis auf den heutigen Tag als "Meinungssoldaten" mit "vorgehaltenen Moralpistolen ...zum Meinungsdienst nötigen".

Die Blockwarte von ehedem werden wiedererkennbar als die "Meinungs- und Gesinnungswarte" einer deutschen Gesellschaft, in der Toleranz "wegen Nichtmehrvorkommens des damit Bezeichneten" zu einem "entbehrlichen Fremdwort" geworden ist. Der so die Augen öffnet, wähnt sich nicht mehr weit entfernt von der "sogenannten Auschwitzlüge", und er stellt die Frage: " ...in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine gewöhnliche Gesellschaft?" Indem Martin Walser die Phänomene beim Namen nennt, bahnt er der Aufmerksamkeit den Weg zu den wesenhaften Zusammenhängen: Wenn es – wie Hegel zeigt - in der Geschichte vernünftig zugeht, worin liegt dann die Vernunft der moralischen Weltanschauung? Sie liegt – das ist meine These – darin, daß sie uns – und damit meine ich nicht nur uns Deutsche – innere Fesseln angelegt hat, deren wir solange bedürfen, wie wir das Vernünftige des Großen Tötens im gerade ausgehenden Jahrhundert – des Holocaust, des Archipels Gulag, Hiroshimas und der Killing Fields in Kambodscha – nicht begriffen haben. Wäre Auschwitz – wie viele meinen – wirklich der ultimative negative Gottesbeweis, könnten wir über Moral nicht reden, denn jedwede Moral wäre gleichermaßen als nichtig erwiesen.

Alle Versuche, Moral nicht von Gott sondern vom Menschen herzuleiten, werden an Nietzsches Frage: "Wozu Mensch überhaupt?" zuschanden. Die moralische Weltanschauung ist eine ernstzunehmende Macht. Das hat der weltweite Protest der 68er gegen die Niedermetzelung der vietnamisischen Freiheitskämpfer gezeigt. Wahrscheinlich ist es ihr zu verdanken, daß in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts die Konflikte zwischen den Machtblöcken nicht außer Kontrolle geraten sind.

Als Deutsche sind wir in besonderer Weise durch die moralische Weltanschauung gebändigt worden. Mit der militärischen Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg war die Gestalt nicht zu brechen, die der absolute Geist unter Adolf Hitler im deutschen Volk angenommen hatte. Die negative Energie dieser Gestalt speist(e) sich vielschichtig aus säkularen Grundströmungen des christlichen Kulturkreises: aus der sozialen Revolution, aus der nationalen Frage, aus der Bewegung des christlich- jüdischen Antagonismus, aus der ins Okkulte gewendeten Rebellion der vom Verstand aufklärerisch überwältigten Vernunft.

Die diesen Grundströmungen gemeinsame Quelle ist die im Christentum geschehene Befreiung des Individuums zur Person. Sie sind und bleiben wirkmächtig – gerade auch im deutschen Volke. Die Geschichte hat vor uns genügend Material ausgebreitet, das es uns ermöglicht, diese Gestalt des absoluten Geistes zu begreifen, die erst durch dieses Begreifen ihre Einseitigkeit – und damit sowohl ihre zerstörerische Negativität als auch die den Geist knechtende Moralität – überwindet. Diese Arbeit liegt noch vor uns. Solange sie nicht getan ist, solange behält die moralische Weltanschauung ihre Berechtigung als eine die Negativität bändigende Kraft. Sie erweist sich – als political correctness – jetzt aber auch als Knechtschaft des Geistes, die abzuschütteln ist.

Der archimedische Punkt für die Lösung dieser Aufgabe ist das erkennende Befassen mit dem Holocaust und dem Archipel Gulag. Was war das Besondere, das Bis-dahin-nie-Dagewesene und in diesem Sinne Einmalige dieser Gewaltorgien? Das Besondere – und in diesem Sinne sind die Verbrechen der Nazis und der Stalinisten vergleichbar – besteht darin, daß sich das Verbrechen jeweils als Gesellschaftssystem organisierte und zu seiner Selbstverwirklichung einen chirurgischen Eingriff in die Schöpfung ausdrücklich zum Programm erklärte, mit diesem Ziel die Staatsmacht eroberte und den Staat, das Dasein des Rechts und der Freiheit, das Dasein Gottes zum ausführenden Organ des Verbrechens machte.

Warum aber werden wir dieses Treibens von Staaten als eines unsagbaren Grauens inne? Die Apokalypse könnte doch auch etwas ganz Fröhliches sein. Einen Vorschein von Auschwitz und Workuta hatten wir in der Französischen Revolution während des Terrors des Wohlfahrtsausschusses. Damals wurde die Menschenschlachtung öffentlich zelebriert und die Menge jubelte jedesmal, wenn ein Kopf in den Korb fiel. Können wir nicht auch Auschwitz beklatschen? Wir können das offensichtlich nicht, weshalb Hitler jeden mit dem Tode bedrohte, der die Wahrheit über Auschwitz verbreitete. Die Antwort gibt Rohrmoser: "Die Bestimmung des Negativen setzt aber immer etwas Positives voraus, das eine Bestimmung von etwas als negativ erlaubt." Im Entsetzen über das Grauen erweist sich etwas als daseiend und dann auch wirkend, das durch seine Existenz die Menschenschlachtung erst zum Grauen macht. Wir können diese Wirklichkeit getrost "Gott" nennen. Und niemand, der den Holocaust als unsagbares Grauen empfindet, kann diese Wirklichkeit leugnen. Sie erweist noch in der Leugnung des Holocaust – die bei uns ja neuerdings unter Strafe steht – ihre Macht: denn die, die den Holocaust leugnen, wollen dadurch doch nur etwas, das ihnen heilig ist, unbefleckt halten. Indem sie den Holocaust als ein befleckendes Ereignis auffassen, stellen sie sich gegen das Böse – und erweisen sich so als "Menschen guten Willens".

In der Überzeugung, daß es in der Geschichte vernünftig zugehe, haben wir in den Stationen des Grauens die Vernunft aufzuzeigen, aber nicht in dem Sinne, daß die genannten Ereignisse Heimsuchungen sind als Strafe für Sündhaftigkeit, sondern als Ausdruck eines zerrissenen Denkens, das jetzt aus dieser Zerissenheit zu sich findet, indem es den Atheismus und Nihilismus als Verlust seiner selbst erkennt. Erkennt, daß die Leistung des Verstandes das skrupellose Töten ist und nur die Vernunft, wohin der Verstand aufgehoben ist – in dem dreifachen Sinn des Negiertseins, des Bewahrtseins und des Erhobenseins – das Töten überwindet, dadurch uns im Selbstbewußtsein unserer Göttlichkeit als Menschen wiederherstellt. Wir erkennen uns darin als in Einheit mit dem Absoluten – man kann auch sagen: mit Gott – als die Stätte seiner Hervorbringung als Wirklichkeit. Allein darin haben wir Leben -also auch Zukunft. Dem Menschen in dieser neuen Gestalt – die wohl von dem "Neuen Menschen" zu unterscheiden ist, den sich der Verstand zurecht gemacht hatte – ist das Töten von Menschen wesensfremd. Der Mensch, der sich so erfaßt, weiß von sich und von allen Menschen, daß er – und wie er jeder Mensch – als schlechthin Einmaliger in der Welt ist mit dem Auftrag, sich in der Wirklichkeit – auch der widerwärtigsten – als Mensch in seiner Göttlichkeit zu erweisen. Vor diesem Bewußtsein werden alle Versuche, die Menschenschlachtung als geschichtliche Notwendigkeit zu rechtfertigen, zunichte. Erst durch dieses Bewußtsein wird die Tötung von Menschen zum absoluten Verbrechen und als solches zur absoluten Ausnahmeerscheinung und Ausdruck nur privater Willkür. Erst dieses Bewußtsein gibt die Kraft zum absoluten Widerstand gegen das Böse in seinem Dasein. Es ist die gleiche Kraft, die die ersten Christen zum Märtyrertum befähigte. Dieser Widerstand führt das Töten von Menschen nicht mehr in seinem Arsenal, weil erkannt ist, daß das Töten von Menschen selbst schon das ist, was durch den Widerstand zu überwinden ist.

Wenn ich versuchen sollte, diesen Standpunkt in eine griffige Formel zu kleiden, würde ich sagen: Annahme und Bewährung ist von uns gefordert. Annahme der Welt als Wirklichkeit des absoluten Geistes; Bewährung als Mensch, das heißt als sein Gehilfe im geschichtlichen Prozeß seiner Vollbringung. Die Kernfrage ist die Freiheit des Geistes. Der Geist ist frei, indem er nichts als sich selbst zum Gegenüber hat, in allem sich selbst weiß, also von nichts abhängt, das er nicht selbst ist. Der Verstand, der die Welt nach dem Grundsatz konstruiert, daß A immer nur A und nicht zugleich auch B ist, der das Unendliche Ganze in lauter endliche Dinge verwandelt, ist der Geist in seiner Unfreiheit. Nur das verendlichende Denken ermöglicht projektive Theoriebildung, d.h. Welterklärungen, die jeweils ein Negatives als dem Verantwortungsbereich des jeweils Anderen zugehörig interpretieren, dadurch zu Feindbildern und infolge davon zu Bürgerkriegen führen.

Es liegt in der Logik dieser Theorien, daß die Negativität eines Zustandes jeweils als verursacht durch Anderes interpretierbar ist, welches dann zum Gegenstand eines chirurgischen Eingriffs wird in der Meinung, dadurch die Negativität aufheben zu können. Soweit sich der absolute Geist noch nicht als Geist in seiner Freiheit erfaßt hat, sondern in seinem Anderen noch eine Objektivität, also ihn Begrenzendes sieht, geht er dazu über, dieses Andere in seinem Dasein, also als materielle Existenz zu vernichten, wo es nur darum geht, den im Anderen ausgedrückten Gedanken in seiner Einseitigkeit, also in seiner Unwahrheit zu erkennen, ihn dadurch aber zugleich als Moment der Wahrheit zu beglaubigen, also auch zu berechtigen. Hitler hat sich entschlossen, die Juden zu vernichten, weil er sie für Vergifter des "völkischen Geistes" und in diesem Sinne für Todfeinde hielt. Stalin hielt die vermeintlichen Ausbeuter für Todfeinde. Beiden ging es also um die Nihilierung geistiger Gestalten.

Die Geschichte ist nicht das Feld der Moral, und die moralische Weltanschauung ist nach Hegel "ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche". (W 3, 453). Mich hatte sie zur Roten Armee Fraktion geführt. Wenn die Geschichte die Erscheinung des absoluten Geistes in seiner Auslegung als Dasein ist, dann kann kein Moment der Geschichte der Verdammnis anheimfallen. Das Subjekt des moralischen Urteils über die Geschichte wäre der absolute Geist selbst und nicht etwa ein anderes Prinzip, ein zweiter Gott. Im moralischen Urteil über die Geschichte würde der absolute Geist über sich selbst richten, über die Art und Weise, in der er selbst etwas über sich in Erfahrung gebracht hat. Aber jede Geschichte hat eine Moral. Die Moral jeder Geschichte ist der Gedanke, in den sich der absolute Geist in seiner Manifestation wirft, um ihn am Dasein zu erfassen.

Auch der Holocaust und der Archipel Gulag haben eine Moral – also einen Sinn. Der jüdische Historiker Amos Funkenstein ("Jüdische Geschichte ... S. 263), hält es für anstößig, den Holocaust zu etwas "Unbegreiflichem" zu erklären, in ihm keinen Sinn sehen zu wollen. Viele Juden sind singend und betend vor die Erschießungskommandos der Sondereinheiten getreten, haben ihre Kinder getröstet und deren Blick gen Himmel orientiert in der Glaubensgewißheit, daß ihr Tod durch Gott einen Sinn hat.

In Rücksicht auf den Europäischen Bürgerkrieg (Ernst Nolte) ist die Moral der Geschichte die Ermöglichung der Erkenntnis, daß der einseitige Gedanke seine Einseitigkeit nicht dadurch überwindet, daß sein Anderes, das ihn zur Einseitigkeit herabsetzt, in seiner daseienden Gestalt vernichtet wird, sondern allein durch die Anstrengung des Denkens. Durch die Anstrengung des Denkens, das sich fähig gemacht hat, die Gegensätze als Momente des Einen, in dem sie aufgehoben und wahrhaft versöhnt sind, zu begreifen. Diese Fähigkeit hat das Denken zuerst in Hegel erlangt. In ihm hat es sich selbst als die befreiende Kraft des Geistes erfaßt. Dieses Denken hat sich als rechte und linke Hegelrezeption wieder entzweit und ist so selbst einseitig geworden. Es gilt, jetzt diese Einseitigkeit zu überwinden. Dann wird die politcal correctness ausgedient haben. Der Gutmensch kann dann abrüsten – und wirklich Mensch sein.


 
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