© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/98  23. Oktober 1998

 
 
Kolumne
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von Klaus Motschmann

Der dänische Religionsphilosoph Sören Kierkegaard (1813–1855) bemerkte einmal bei einem Spaziergang durch seine Heimatstadt Kopenhagen in einem Schaufenster ein Schild mit der Aufschrift "Hier wird gebügelt". Als er daraufhin am nächsten Tage den Laden aufsuchte, um dort ein paar Hemden bügeln zu lassen, wurde ihm erklärt, hier werde nicht gebügelt. In diesem Laden verkaufe man nur Schilder. Gebügelt werde woanders.

Dieses Mißverständnis hätte vermieden werden können, wenn er nicht nur auf das eine, ihn interessiende Schild geschaut, sondern auch die sonstigen Auslagen im Schaufenster beachtet hätte, wie er es in seinen wissenschaftlichen Textinterpretationen selbstverständlich praktiziert hat.

Was bei Kierkegaard noch die sprichwörtliche Reaktion eines "zerstreuten" Gelehrten gewesen sein mag, hat sich inzwischen zu einer systematisch betriebenen Methode der geistig-politischen Auseinandersetzung unserer Zeit entwickelt. Uns werden noch immer "Positionen und Begriffe" vermittelt, die längst einen ganz anderen (oder gar keinen) Aussagewert haben als den, den wir ihnen noch immer beimessen. Wir achten vielfach nicht auf das gründlich veränderte geistig-politische Umfeld wesentlicher Aussagen, so daß Mißverständnisse, Irrtümer und Enttäuschungen geradezu vorprogrammiert sind. Sie vermitteln einen Eindruck von Lösungsmöglichkeiten für naheliegende Probleme oder deuten Perspektiven an, die es in diesem Umfeld garantiert nicht gibt.

"Gebügelt", das heißt bestimmend gehandelt wird im Rahmen der Globalisierung und Europäisierung kaum noch in Politik und Wirtschaft, sondern immer öfter in den in der Verfassung nicht vorgesehenen internationalen Organisationen und – noch problematischer – in den non government organizations (Greenpeace, Amnesty International, kirchliche Weltbünde usw.), deren demokratische Kontrolle durch das deutsche Volk gar nicht oder kaum gewährleistet ist. Sie bestimmen zwar noch nicht die Einzelheiten der Richtlinien unserer Politik, die formal noch immer von dem jeweiligen Bundeskanzler angewiesen werden; sie bestimmen aber die Richtung der Linien und damit den Handlungsspielraum – auch der neuen Regierung. Auch sie wird schon sehr bald die Erfahrung machen, die uns Goethe in der klassischen Walpurgisnacht dargestellt hat: "Du glaubst zu schieben, doch du wirst geschoben." Der Erwartungshorizont, den manches neue "Schild" nach der Wahl geweckt hat, sollte sehr klein gehalten werden. In unseren nationalen Institutionen werden zu den entscheidenden Problemen fast nur noch Schilder verkauft. Gebügelt wird längst woanders.


 
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