© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/98  23. Oktober 1998

 
 
Doppelte Staatsbürgerschaft: Millionen Ausländer werden zu Deutschen und EU-Bürgern
Ein gewisses Maß an Mitschuld
Hans B. von Sothen

Es ist das wichtigste Projekt", freut sich Cem Özdemir, Bundestagsabgeordneter der Grünen. Klar ist für ihn auch: Die von der neuen Koalition beschlossenen Änderungen zum Staatsbürgerschaftsrecht werden nur ein Anfang sein. Noch in dieser Legislaturperiode soll, geht es nach dem Willen der Grünen und vieler SPD-Abgeordneter, ein wesentlich weiter gehendes Gesetz beschlossen werden; andere Gesetze wie etwa die Einbürgerungsrichtlinien werden total überarbeitet. Özdemir: "Es steht eine Generalrevision bevor."

Özdemir spricht wohl nicht nur für die Grünen. Auch in der SPD wird sich möglicherweise schon bald der 68er-Mittelbau zu Wort melden. Für viele Wähler kam jedoch der überaus schnelle Beschluß zum neuen Staatsbürgerschaftsrecht, das Millionen in Deutschland lebenden Ausländern das Recht auf Einbürgerung und doppelte Staatsbürgerschaft geben wird, überraschend. Im Wahlkampf war nämlich – gerade von Unionsseite – über das Thema kein Sterbenswörtchen zu hören. Natürlich: es stand in den Parteiprogrammen von SPD und Grünen. Aber welcher normalsterbliche Wähler tut es sich schon an, sich durch Berge von leeren Worthülsen zu lesen? Da war es einfacher, über "Weltklasse" und die "Neue Mitte" zu schwadronieren. Politische Megaperls für den mündigen Wähler.

Dabei waren die Parteiprogramme sehr deutlich: Die SPD wollte Kindern, von Eltern, die hier geboren wurden, automatisch das Staatsbürgerschaftsrecht verleihen – so wie es jetzt auch beschlossen wurde –, die FDP wollte laut Parteiprogramm gar allen Ausländern, die hier geboren wurden, das Staatsbürgerschaftsrecht geben, die Grünen wollten schlicht, daß jeder, der sich fünf Jahre im Lande aufhält, Deutscher werden kann. Eine Regelung, wie sie selbst in klassischen Einwanderungsländern undenkbar ist. Konnte man nicht lesen? Wollte man nicht hören?

Unterdessen ist bei CDU und CSU der Katzenjammer ausgebrochen. CDU-Rechtsexperte Rupert Scholz will prüfen lassen, ob die neuen Pläne zur Staatsangehörigkeit verfassungswidrig sind. Die CSU droht gar mit dem Europäischen Gerichtshof, vor allem in Hinblick auf die Tatsache, daß mit dem deutschen Alleingang auf Dauer Millionen von Türken automatisch auch die EU-Bürgerschaft erhalten würden. Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) sprach sich unter Hinweis auf den Fall des 14jährigen Serienstraftäters "Mehmet", der als Strafunmündiger bereits mehr als 60 strafrechtsrelevante Delikte begangen hat, gegen eine leichtere Einbürgerung für Ausländer aus. Dies sei, so Günther Beckstein gegenüber der Saarbrücker Zeitung, "nicht im Interesse der überwältigenden Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen, auch der Ausländer". Nach der neuen Rot-grün-Regelung hätte "Mehmet" nunmehr nicht die Abschiebung, sondern die Einbürgerung zu gewärtigen.

Doch alle starken Worte, die man jetzt aus Unions-Mund hören wird, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß die CDU ein gehöriges Maß an Mitschuld an den Zuständen trifft, die in der Folge des neuen Staatsbürgerschaftsrechts eintreten werden. Die Union ist in dieser Frage tief gespalten. Sie ist zerrissener, als es die markigen Worte von Scholz und Beckstein vermuten lassen. Bereits Ende 1997 hatten sich die linksanpasserischen "Jungen Wilden" um Peter Altmaier und der Fügel um Rita Süssmuth, Heiner Geißler, Horst Eylmann und weitere fast 50 Bundestagsabgeordnete intern für die doppelte Staatsbürgerschaft eingesetzt. Altmaier machte 1997 in einem Interview mit dem Trierischen Volksfreund klar, daß er und ein erheblicher Teil der Union sich dafür einsetze, daß in Deutschland geborene Kinder automatisch Anspruch auf die deutsche Staatsbürgerschaft hätten.

Auch der FDP mußte man regierungsintern, als es im März 1998 im Bundestag um die SPD-Initiative ging, die exakt auch den Vorschlägen Altmaiers, Süssmuths und Geisslers entsprach, noch einmal mit dem vorzeitigen Ende der christ-liberalen Koalition drohen. Eine Mehrheit um Guido Westerwelle hatte sich zuvor für den SPD-Entwurf ausgesprochen. Daß immerhin drei FDP-Abgeordnete (die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen, Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Bundestagsvizepräsident Burkhard Hirsch) in dieser Frage sogar den Koalitionsbruch in Kauf nahmen, konnte nicht mehr verwundern.

Auch der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages, Horst Eylmann (CDU) hatte sich damals ebenfalls im Plenum für den SPD-Entwurf ausgesprochen. Helmut Kohl hatte sich zu diesem zentralen Thema, wie so oft, ausgeschwiegen. Daß die Union nicht damals schon eingebrochen ist, war vor allem Ex-Innenminister Manfred Kanther zu verdanken, der anmerkte, die Staatsangehörigkeit könne nur das Ergebnis, nicht aber der Anfang einer erfolgreichen Integration sein.

Nicht zuletzt aufgrund ihrer inneren Zerrissenheit hat die CDU um Ex-Generalsekretär Peter Hinze und nicht zuletzt Helmut Kohl vor der Bundestagswahl vehement die Parole ausgegeben, die Ausländerfrage dürfe im Wahlkampf auf keinen Fall ein Thema sein, weil man damit nur den "Rechten" in die Hände arbeite. Offensichtlich ist ein Thema von der größten Wichtigkeit für die Zukunft dieses Landes nicht wichtig genug, um ein Thema im Wahlkampf zu sein, sprich: um die Wähler darüber abstimmen zu lassen. Es war die alte Politik Helmut Kohls – nicht nur sein Mißtrauen gegenüber allem, was von fern nach Wählerbeteiligung aussah, sondern vor allem auch sein alter Haß gegen alles Rechte und Konservative, ein Haß, dem er bereits auf skandalöse Weise 1959 in seiner Jungfernrede als junger rheinland-pfälzischer CDU-Landtagsabgeordneter Luft gemacht hatte. Kohl ist sich treu geblieben. Nicht zuletzt ihn trifft eine ganz persönliche Schuld. Während seiner sechzehnjährigen Kanzlerschaft hat Deutschland eine unkontrollierte Einwanderungswelle erlebt, die seit dem Anbruch der Moderne ohne Beispiel ist. Nun steht man in der CDU vor dem Scherbenhaufen dieser Politik.

Glaubte man bei der CDU, das Thema werde sich nach der Wahl schon irgendwie von selbst lösen? Was nur hat die Union geritten, daß man beschloß, dieses Thema, über das nun von Rot-grün so kurz nach der Wahl entschieden wurde, nicht vom Wähler mitentscheiden zu lassen? Die Hoffnung auf den Europäischen Gerichtshof wird trügen. Denn auch dort sitzen inzwischen Leute, für die das Multikulti-Konzept das einzig Denkbare ist. Hoffnungsvolle Ansätze in Frankreich, die – übrigens nicht nur von rechts – das deutsche Ius sanguinis-Modell im Staatsbürgerschaftsrecht auch für Frankreich als vorbildlich ansahen, sind auf lange Zeit obsolet.

"Wir sind endlich in Europa angekommen", meinte der Grüne Cem Özdemir euphorisch. Das Doppeldeutige des Satzes scheint den meisten entgangen zu sein. Denn "angekommen" sind nicht nur die Deutschen im neuen Multi-Kulti-Europa des Dritten Weges, sondern auch 7,3 Millionen in Deutschland lebende Ausländer, die nun einen einklagbaren Anspruch auf Einbürgerung haben werden.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen