© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/98  23. Oktober 1998

 
 
Walser-Rede: Die Verunglimpfung von Bubis stößt auf Widerspruch
Gewolltes Mißverstehen
Thorsten Thaler

Der im öffentlichen Raum geführte Diskurs hierzulande ist auf den Hund gekommen. Wenn es für diese von einer dicken Staubschicht überzogene Erkenntnis eines neuen Beweises bedurfte, dann haben ihn die Reaktionen auf die Rede Martin Walsers anläßlich der Verleihung des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche (siehe Dokumentation JF 43/98) geliefert.

Die Rede habe bei ihm "lähmendes Erstaunen verursacht", gab der Schriftsteller Ralph Giordano zu Protokoll, und auch seine österreichische Kollegin Elfriede Jelinek zeigte sich "empört". Zu einem Politikum wurden die Reaktionen indes erst durch die Wortmeldung des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Bei seinen Ausführungen zur Instrumentalisierung von Auschwitz und seiner ablehnenden Haltung zu dem umstrittenen Bau eines Holocaust-Denkmals in Berlin habe Walser "schockierende Thesen" vertreten, erklärte Ignatz Bubis. Er warf dem Schriftsteller "geistige Brandstiftung" vor. "Leute wie der DVU-Vorsitzende Gerhard Frey und Ex-Republikaner-Chef Franz Schönhuber sagen es auch nicht anders", behauptete Bubis.

Daß sich namhafte Intellektuelle aus dem linksliberalen Milieu wie der Tübinger Rhetorik-Professor und Autor Walter Jens, der Leipziger Schriftsteller Erich Loest und sein Berliner Kollege Peter Schneider auf die Seite von Walser stellten, konnte den Zentralrats-Vorsitzenden nicht besänftigen. Jedes Augenmaß verlierend, attackierte Bubis zwei Tage später in einem Interview den Friedenspreisträger erneut. Walser wolle, "daß das Thema Holocaust im Orkus der Geschichte versinkt", daß nicht mehr darüber gesprochen werde. Bereits 1995 anläßlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes hätten "nationalistische Politiker den Schlußstrich" gefordert. Neu und "alarmierend" sei, so Bubis, daß mit Walser nun ein Intellektueller dazukomme. Dies habe nichts mit der Berliner Republik zu tun, sondern "schlicht und einfach damit, daß in Deutschland das Milieu rechtsextremistischer Intellektueller wächst".

Martin Walser, promovierter Literaturwissenschaftler, ausgezeichnet mit dem Hermann-Hesse-, Gerhart-Hauptmann-, Schiller- und Büchner-Preis sowie seit 1987 Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes, ein Rechtsextremist und geistiger Brandstifter? Zu Recht stieß die völlig haltlose Verunglimpfung Walsers auf nahezu einhelligen Widerspruch in den Feuilletonspalten und provozierte die Frage, ob Bubis den angesehenen Schriftsteller bewußt mißverstehen wollte. So mißverstehen wie der Frankfurter Publizist Micha Brumlik, der in der taz Walser Nationalismus vorwarf und ihm unterstellte, er wolle die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit entsorgen und endlagern. Oder so mißverstehen wie die Süddeutsche Zeitung, die Walsers Rede als "absurd, trotzig, verquer und verquast" bezeichnete.

Die Berliner Zeitung hingegen überkam ein "Unbehagen" angesichts der Reaktion von Bubis, denn "längst richtet sich die mißtrauische Zensur der Öffentlichkeit nicht nur auf die Rede über den Holocaust, sondern auch auf die Rede über die Rede über den Holocaust, also auf die Metaebene". Selbst über Kunstwerke wie das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin-Mitte dürfe nicht mehr "offen und ungeschützt" geredet werden, klagte Feuilleton-Chef Jens Jessen. Schon verlangten Künstler erfolgreich jenen "rhetorischen Schutz", der dem Holocaust selber gelte, auch für ihre "zweifelhaften Gedenkanstrengungen". Hier sei ein religiöser Mechanismus am Werk, der am Ende alle Erkenntnis der Geschichte bedrohe.

"Dabei müßte Martin Walser einem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden doch aus dem Herzen gesprochen haben, daß man aus dem Gedenken an die Shoah keine Horrorshow machen darf", meinte selbst die sozialistisch-antifaschistische Tageszeitung Neues Deutschland und wußte sich darin einig mit dem Kommentator der liberal-konservativen Springer-Zeitung Die Welt, Tilman Krause: "Eigentlich wollen beide dasselbe." Im Gegensatz zu Ignatz Bubis habe Walser jedoch erkannt, daß Quantität im Gedenken an den Holocaust allein nicht reiche. Eine Quantität, "wie sie ablesbar ist in den Wiederholungen der ewig gleichen Formeln".

Die Walser-Rede habe mitnichten Stichworte für jene geliefert, die einen Schlußstrich unter die jüngere deutsche Geschichte ziehen wollten, "ganz und gar nicht", erkannte auch der Rheinische Merkur. Wofür Walser in seiner Rede gegen die Instrumentalisierung und Ritualisierung von Auschwitz plädiert habe, sei das genaue Gegenteil.

Der Protest gegen das verleumderische Fehlurteil des Zentralrats-Vorsitzenden reichte bis in die deutsche Provinz. "Wo leben wir eigentlich?" fragte sich "erschrocken" die Saarbrücker Zeitung: "Dort, wo einem erwiesenen Demokraten die Worte verdreht werden, um ihn zum geistigen Brandstifter zu stempeln?" Walsers Rede habe keinen Anlaß zu Mißverständnissen geboten. Nur habe er "beim Aussprechen von Kritischem, ohne sich einem Gruppenzwang zu unterwerfen, schlimme Erfahrungen gesammelt. Jetzt die, daß nicht einmal mehr das Gewissen eines Demokraten frei ist".

Allen Klagen zum Trotz: Für das freiheitliche Selbstverständnis der im Werden begriffenen Berliner Republik sind diese deutlichen Zurückweisungen des gewollten Mißverstehens der Walser-Rede durch den Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland ein Glücksfall. Daß Ignatz Bubis, der am vergangenen Wochenende in London auch zum Präsidenten des European Jewish Congress gewählt wurde, sich mit seiner öffentlichen Verleumdung nicht behaupten konnte, nährt die Hoffnung auf das Entstehen eben jenes nationalen Selbstbewußtseins, mit dem die Deutschen sich in Erinnerung ihrer historischen Verantwortung wieder als "ein ganz normales Volk" (Walser) begreifen können. In der Verleihungsurkunde des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels an Martin Walser – auch daran sei noch einmal erinnert – heißt es, er habe "den Deutschen das eigene Land und der Welt Deutschland erklärt und wieder nahegebracht".


 
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