© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/98  23. Oktober 1998

 
 
Soviel Abschied war nie: ZDF-Ermittler Derrick folgt Berti Vogts, Helmut Kohl und Erich Böhme
Das geheime Deutschland
Harald Schumann

Was immer schon auffiel, war der Name des Protagonisten: Derrick. Was mochte den vormaligen Kriegsberichterstatter Reinecker dazu gebracht haben, seinem ZDF-Drehbuchkriminalisten diesen sonderbaren Familiennamen zu geben? Ein Blick in den Fremdwörter-Duden belehrt, daß es sich hierbei um den Namen eines berüchtigten englischen Henkers im 17. Jahrhundert handelt. Unter "Derrickkran" will Duden einen "Mastenbaukran" verstanden wissen, einen "Montagekran für Hoch- und Tiefbau". Die bundesdeutsche Version dieses praktischen Hebezeugs heißt im Zivilleben Horst Tappert, ist 75 und Schauspieler: Charakterfach, Typ Elder Statesman, Volvo-Vorstandsmitglied, Ahrwein-Kenner, Kishon-Leser und Aquarianer.

Soeben verabschiedete das ZDF seinen weltweiten Exportschlager: den Münchner Kriminal Stephan Derrick, der in 280 Folgen alles an Fällen löste, was es zu lösen gab, und der dennoch, extrem BRD-untypisch, über den "Oberinspektor" nie hinausgelangt ist. Derrick-Erfinder und Drehbuch-Akkordfabrikant Herbert Reinecker wollte das so. Dessen Autorenwillkür setzte überdies einen "Inspektor Harry Klein" in die ZDF-Welt, ein untersetztes, scharfgescheiteltes Faktotum (gegeben durch Fritz Wepper, 57), das nie von der Seite seines Herrn zu weichen hat ("Sagen Sie Herrn Oberinspektor Derrick gefälligst die Wahrheit!"). Der, ein hochaufgeschossener, in einem Vierteljahrhundert Serienfolgen silberhaarig gewordener Akteur war so kerndeutsch, wie man es nur im ZDF, der Gründung Konrad Adenauers, sein darf bzw. muß.

Prof. Stolte ließ den Abschied der größten ZDF-Zugnummer mehrtägig begehen; als würdiger Fortsetzer echt mainzischer Zerstreuungstradition steht Tappert-Derrick neben Biolek-Drehscheibe, Thoelke-Sportstudio, Hänschen Rosenthals Dalli-Dalli und Gottschalk-Wetten in der ewigen deutschen TV-Bestenliste. Die Serie wurde mittlerweile in 102 Länder verkauft, man kennt den stocksteif-korrekten Gangsterfänger von China bis Teneriffa. Weltweit keine Rasse, keine Religion, die den Dienst-BMW unserer konservativ-elegant gekleideten Respektsperson nicht schon hätte die Vororte Münchens durchmessen sehen. Das aktuelle Bild von Deutschland und den Deutschen soll sich dem Globus durch diese Serie wirksamer vermittelt haben, als es von Goethe-Instituten veranstaltete Grass-Abende je vermocht hätten.

Stephan Derrick und Harry Klein stehen für das alerte Neu-Deutschland des "Wir haben verstanden" (Auto-Reklamespruch); beide modellieren soziale Hierarchie, fraglose Über- und Unterordnung im Berufsleben; ohne große Pistolenoper repräsentieren sie Ordnung als das ganze Leben. Sie wissen, daß Verbrechen stets soziale Ursachen haben, sie suchen es weniger im gesellschaftlichen Unten als in Sippen, deren Domizile man über korrekt geharkte Kieswege erreicht. Geängstigte Frauen kommen ständig vor, eine Rolle spielen sie kaum. In der Regel sind reiche Witwen zu verhören. Derrick dominiert die Szene, sein Harry darf Telefonverbindungen herstellen, Kleinzeugen befragen (natürlich nur im Beisein des Oberinspektors), Harry darf Beobachtungen kundtun und dient ansonsten als zweibeiniger Resonanzboden Derrickscher Gescheitheiten, zumal der gerne predigt und weltverbessert.

Notorisch verliert sich der deutsche Kriminalist in Betrachtungen über Gott und die Welt sowie das Sein an sich. Das erwarten wir von uns: Derrick, der Fänger, als Dichter und Denker, meist der Schlechtigkeit der Welt, denn er scheint eine kulturkritische, fast schon zivilisationspessimistische Ader zu haben. Auch sein schäferhundartiger Assi Harry bekommt den Greisenverdruß zu spüren: "Fritz Wepper wollte mein Nachfolger werden. Aber wenn der im Büro sitzt, wartet die ganze Welt darauf, daß die Tür sich öffnet und ich reinkomme." So macht der mimisch stark limitierte Wepper ebenfalls Schluß.

Im Grunde ist auch Derrick eigenartig konturenlos – trotz mabusehafter Tränensäcke, riesigem Kassengestell, wässrigen Glotzaugen, Panzerplattengebiß und Oberstudienratsartikulation. Allenfalls negativ läßt sich Konkretes gewinnen: ZDF-Derrick als lebensweltlich größte denkbare Entfernung zu ARD-Schmuddelbulle Schimanski? Derrick garantierte der alternden Mainzer TV-Gemeinde actionarme, aufregungslose, kreislauffreundliche Krimikost. Gewiß half er quasi als TV-Therapeut Millionen Rentnern in süßen Bildschirmschlummer: die kraftlosen Sujets, die breizähen Dialoge, der schleppende Umschnitt, die endlosen Naheinstellungen auf die Faltengebirge von Maria Schell, Curd Jürgens, Hans-Christian Blech etc.pp., Valium-TV. Manche Folge soll es auf Krankenschein gegeben haben…

Derrick war die Fortsetzung des BRD-Heimatfilms ("Der Förster im Silberwald") als deutsch-schweizerisch-österreichisches Koproduktionskammerspiel, als Milieustück zur Modernisierung, filmische Glasbausteinbauweise. Besonders ulkig, wenn in Etablissements gefahndet wird, und ein Hauch von Heinrich Mann, Prof. Unrat, in der Luft liegt. Blauer Engel in bajuwarischer Unterwelt, droben im Licht aber wandeln ebenso böse, brave Bürgersleut’. Derrick war Krimikost für Hobby-Drehbankbesitzer, fanatische Do-it-yourself-Dachbodenverschaler, unausgelastete frühverrentete Freizeitschweißer mit Boschhammer, für den Schützenvereinsschriftwart, dessen ganzer Stolz sein privater Druckstrahlreiniger ist. Dieses geheime, rasend ordentliche Deutschland nimmt von seinem größten Idol Abschied. Die Welt weiß nun dank Derrick von der Existenz dieses eigentlichen ewigen Deutschland, dessen Sinnen und Trachten sich im hausmeisterhaften Oberinspektor offenbart: Die Welt verbessern, ohne sie zu verändern.


 
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