© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Konservatismus: Justizminister Steffen Heitmann über CDU und PDS, Tugenden und Werte
"Wir müssen radikal umdenken"
Helmut Matthies

Herr Heitmann, "Die CDU hat die Wahl vor allem im Osten verloren", titelte die "FAZ "...

Heitmann: Und das trifft so nicht zu. Vergleichsweise gingen mehr Direktwahlkreise im Westen verloren als in den neuen Bundesländern. Die Ursache liegt auch nicht darin, daß man "den Kohl" nicht mehr meinte sehen zu können, sondern in erster Linie darin, daß wir die Reformen – insbesondere im Gesundheitswesen und bei der Rente – nicht überzeugend genug als notwendig hinstellen konnten. Seit sie Anfang 1997 eingeführt wurden, ging die Zustimmung zu den Reformen deutlich nach unten. Bei vielen Bürgern ist deshalb der Eindruck entstanden, die CDU sei eine Partei für die Reichen geworden.

Was hätte sozialpolitisch anders laufen sollen?

Heitmann: Wir hätten deutlich machen müssen, daß wir den Bürgern nicht das Geld aus der Tasche ziehen wollten, sondern daß uns überhaupt keine andere Möglichkeit blieb, als manche nicht unbedingt nötigen Leistungen zurückzuschrauben, weil sie eben nicht mehr zu finanzieren waren. Auch eine neue Regierung wird hieran nur etwas ändern können, wenn sie noch mehr Schulden macht.

Aber daran kann die Niederlage doch nicht allein gelegen haben!

Heitmann: Für mich ist entscheidend, daß wir einen beschämenden, da blutleeren Wahlkampf hatten, weil er sich ausschließlich mit materiellen Dingen beschäftigte. Es ging immer nur um Zahlen, ums Geld, statt (auch) um Inhalte. Es nützt doch beispielsweise nichts, neue Jugendzentren zu verlangen, ohne vorher die Frage beantwortet zu haben: Was soll in diesen Jugendzentren inhaltlich laufen?

Was hätte die Bürger anstatt Geld interessiert?

Heitmann: Vor allem der große moralische Verfall in unserem Volk. Denken wir nur an die zunehmende Kinder- und Jugendkriminalität, die ja nachweislich ihre Ursache nicht im Sozialen, also in der Armut, hat, sondern darin, daß Kindern in Familien und Schulen nicht mehr vermittelt wird, wo Grenzen liegen bzw. was gut und böse ist. Dann die verbreitete Rücksichtslosigkeit – im Kaufhaus wie im Straßenverkehr. Oder die Verwahrlosung des öffentlichen Raums: Kaum ist ein Gebäude schön renoviert, ist es schon beschmiert. Oder die beispiellose Gewalt- und Pornographiewelle im Fernsehen. Immer wenn ich diese Themen in meiner politischen Arbeit angesprochen habe, habe ich große Zustimmung geerntet. Warum hat es meine Partei nicht breiter thematisiert?

Aber das Hauptthema Arbeit dürfte doch erst recht viele interessiert haben!

Heitmann: Sicher, aber warum behandeln wir es nur so einseitig? Merkwürdigerweise wird immer nur die bezahlte Arbeit als wertvoll angesehen und dabei beispielsweise die unglaubliche Leistung unterschlagen, wenn Mütter sich jahrelang liebevoll um die Erziehung ihrer Kinder kümmern und dafür auf eine Erwerbstätigkeit verzichten. Nach tschechischen Untersuchungen hat die Kollektiverziehung in der Kinderkrippe negative Auswirkungen bis in die nächste Generation hinein! Ehemalige Krippenkinder sind häufig schlechtere Mütter und Väter als Familienkinder. Bei ihnen ist auch die Scheidungsrate höher. Daß solche Selbstverständlichkeiten betont werden müssen und dafür Untersuchungen notwendig sind, kennzeichnet den Stellenwert der Familie in der veröffentlichten Meinung.

Sollte die Tätigkeit der Mütter bezahlt werden?

Heitmann: Da wären wir schon wieder beim Geld! Natürlich kann man auch solche Überlegungen anstellen, aber in erster Linie kann es doch nicht darum gehen, daß immer gleich an eine Bezahlung gedacht wird. Tatsache ist doch, daß wir gegenwärtig in der wohlhabendsten und freiesten Gesellschaft leben, die wir je hatten – und davon profitieren alle Schichten. Trotzdem wird von immer mehr Gruppen verlangt, noch immer mehr Geld zu bekommen. In früheren Jahrzehnten, als teilweise eine katastrophale Armut in Deutschland herrschte, wäre niemand auf die Idee gekommen, ein Gehalt für Mütter zu fordern oder für die Pflege der eigenen Eltern eine Versicherung einzuführen. Heute aber soll der Staat für die selbstverständlichsten Dinge aufkommen. Und hier ist ein Umdenken notwendig, wobei man freilich an die Wurzeln dieses egoistischen Denkens gehen muß. Der Präsident der Universität Boston, John Silber, hat einmal geäußert: "Luxus ist schlimmer als Krieg." Ein hartes Wort, aber mit einer tiefen Wahrheit! Unser gegenwärtiger Wohlstand hat uns nicht zur Dankbarkeit geführt, sondern zu noch größerem Egoismus. Sonst wäre beispielsweise die besonders von den Kirchen gepflegte Klage über eine angebliche neue Armut in Deutschland überhaupt nicht denkbar. Daß es kaum noch existentiell bedrohliche Leiderfahrungen mit materiellem Hintergrund gibt – denn Arbeitslosigkeit wurde ja auch noch nie in unserer Geschichte so finanziell abgefedert wie gegenwärtig –, führt auch zu fehlender Demut. Von den uns aufgetragenen Tugenden wie Verantwortungsbewußtsein und Dienen ist dann schon gar nicht mehr die Rede.

Und was sollte nun getan werden?

Heitmann: Wir müssen – und hier läge die große Chance für eine Erneuerung der CDU wie unseres Volkes – zu einem radikalen Umdenken ermutigen und das auch vorleben, wie ja überhaupt das größte Problem ist, daß es uns an Vor- und Leitbildern bzw. Autoritäten fehlt. Wobei hier jeder selbst gefordert ist, bei sich anzufangen.

Erstmals ist eine kommunistische Partei über die Fünf-Prozent-Hürde gekommen. Wie ist es möglich, daß so viele Menschen die PDS gewählt haben, eine Partei, die zu über 90 Prozent aus Mitgliedern besteht, die die Einmauerung der DDR mitzuverantworten hatten?

Heitmann: Weil der Mensch vergeßlich ist! Und weil der rasche Einigungsprozeß einen Teil der Menschen emotional nicht mitgenommen hat. Nach 1945 gab es einen radikalen Schnitt. Alle Neonazi-Parteien wurden danach verboten, und es gab durch die Alliierten gewissermaßen eine geistige Umerziehung zur Demokratie. Ende 1989 gab es eine friedliche Revolution. Man ist also mit den Eliten der ebenfalls höchst verwerflichen DDR-Diktatur sehr vorsichtig und verträglich umgegangen. Es wäre damals besser und auch vermittelbar gewesen, die PDS als SED-Fortsetzungspartei zu verbieten. Dann hätte sich eine andere sozialistische Partei gründen können, aber es wäre zuvor ein klarer Trennungsstrich gezogen worden. Viele, auch in meiner Partei, haben gedacht: Wenn es den Menschen erst einmal materiell besser geht und sie reisen können, dann werden sie von selbst die Vorteile der Demokratie erkennen. Das habe ich immer bezweifelt, und das ist auch nicht gelungen. Die ganze Verwerflichkeit des DDR-Systems und die Unmöglichkeit des Sozialismus, wirklich menschlich sein zu können, wurde nie deutlich gemacht.

Warum eigentlich nicht?

Heitmann: Auch im Westen bestand kein großes Interesse daran, denn dann hätte man ja auch deutlich machen müssen, wie sehr man sich selbst geirrt hat. Noch gegen Ende der DDR-Zeit konnte man beispielsweise in der Wochenzeitung Die Zeit lesen, daß es ja eigentlich aufwärts mit der DDR ginge und sich die meisten mit dem dortigen System arrangiert hätten. Es fehlt auch am Eingeständnis des Westens, sich im Blick auf den Sozialismus geirrt zu haben.

Ich hatte als Gedenkmöglichkeit beispielsweise vorgeschlagen, daß Züge, die über die einstigen Grenzübergänge wie etwa Marienborn fahren, vielleicht eine Minute halten sollten – dort, wo Millionen bei den Kontrollen gedemütigt und schikaniert wurden. Den ehemaligen Todesstreifen hätte man – etwa an den Autobahnen – mit Schildern markieren können, so daß immer wieder ein Grund zur Dankbarkeit vorhanden gewesen wäre über das überwundene Unrecht.

Es gibt 900 Erinnerungsstätten in Deutschland an das nationalsozialistische System. An 40 Jahre SED-Diktatur erinnern nicht einmal 20 Stätten. Einige von ihnen stehen aus Finanzgründen vor einer Schließung, während gleichzeitig die PDS über ein Milliardenvermögen verfügen soll. Warum hat die CDU hier keine andere Politik gemacht?

Heitmann: Weil wir hierfür keine Mehrheit bekommen hätten, denn auch in meiner Partei wollen in West und Ost nicht viele an die DDR-Zeit erinnert werden. Doch wenn alle, denen das zu Recht eine wichtige Aufgabe ist, die vorhandenen Stätten besuchen würden, wäre ihr Fortbestand schon gesichert.

Sie sind nach Ihrer Kandidatur für das Bundespräsidentenamt 1993 auch deshalb von linksorientierten Medien scharf kritisiert worden, weil Sie geäußert hatten, daß aus dem "organisierten Tod von Millionen Juden in Gaskammern" nicht eine "Sonderrolle Deutschlands" abzuleiten sei bis "ans Ende der Geschichte". Nun hat sich Martin Walser, der einst zu den Linksaußen zählte und heute als einer der bedeutendsten Schriftsteller in Deutschland gewürdigt wird, ähnlich geäußert. Daraufhin hat ihm der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, "geistige Brandstiftung" vorgeworfen. Sitzen Sie als eher Konservativer jetzt mit dem eher linksorientierten Walser in einem Boot?

Heitmann: Die Reaktion von Bubis ist absurd. Wer eine so tiefe und ehrliche Rede als "geistige Brandstiftung" bezeichnet, muß sich fragen, ob er nicht selbst zum "geistigen Brandstifter" wird. Er schadet damit nicht nur sich selbst, sondern auch dem Ansehen der Juden in Deutschland. Die systematische Judenvernichtung war ein furchtbares Verbrechen. Aber die tausendjährige Geschichte Deutschlands darf nicht auf diese zwölf Jahre allein reduziert werden. Deutschland gehört viel länger zu den treuesten Freunden und Helfern Israels. In den letzten Jahren sind Zehntausende von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion bewußt nach Deutschland und nicht in die USA oder Israel ausgewandert. Auch das gehört zu unserer Geschichte.

Das Interview hat Steffen Heitmann der Evangelischen Nachrichtenagentur idea in Wetzlar gegeben.


 
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