© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/98  30. Oktober 1998

 
 
Rentenreform: Der Kampf gegen "Scheinselbständigkeit"
Kurieren an Symptomen
Ronald Schroeder

Nicht immer ist die Definition des Begriffs "Scheinselbständigkeit" so eindeutig wie bei dem Kellner, der an der Theke erst selbst das Steak "erwirbt", um es dann an den Gast "weiterzuverkaufen". Trotzdem wurde diese "Berufsgruppe" – neben den geringfügig Beschäftigten – als eine Ursache für die Misere der gesetzlichen Rentenversicherung ausgemacht. Die SPD möchte alle "Scheinselbständigen" in die gesetzliche Rentenversicherung integrieren. Dazu erstellte sie im Frühjahr 1997 einen Kriterienkatalog: Bei jedem Einzelunternehmer, der keine weiteren Mitarbeiter beschäftigt, soll bis zum geführten Gegenbeweis vom Vermutungstatbestand der Scheinselbständigkeit ausgegangen werden. Gerade in der ersten Phase der Selbständigkeit können aber oft noch keine Mitarbeiter eingestellt werden. Obwohl nach einer Berechnung des Instituts der deutschen Wirtschaft in Deutschland eine Selbständigenlücke von rund 560.000 Personen klafft, will man Existenzgründern den Arbeitnehmer- und den Arbeitgeberanteil der Rentenversicherung aufbürden. Zudem würde es in der Praxis zu völlig absurden Konstellationen führen: Vermieter, die Räume zur gewerblichen Nutzung an einen Einzelunternehmer ohne weitere Mitarbeiter vermieten, würden unter Umständen zum Arbeitgeber des Mieters – mit entsprechender Sozialversicherungspflicht. Gewonnen hätte die Rentenversicherung auf diese Weise rund 200.000 neue Beitragszahler, vor allem Heimarbeiter, Franchise-Nehmer und freie Mitarbeiter der Medien.

Andererseits ist sich der Staat in seinem Versuch, an das erarbeitete Einkommen seiner Bürger heranzukommen, selbst im Wege. Während die Sozialversicherungsträger bemüht sind, selbständige Versicherungsvertreter als "Scheinselbständige" in die Rentenversicherung zu pressen, wollen die Finanzämter von ihnen gern Gewerbesteuer kassieren. Auffällig ist, daß nur an den Symptomen herumkuriert wird.

In der Vergangenheit versicherten sich viele Selbständige und Hausfrauen freiwillig. Bundeskanzler Schmidt setzte erstmals die Axt an das geltende Rentensystem. Durch niedriger bewertete Ausbildungszeiten erlitten vor allem Akademiker Renteneinbußen. Die Rentenerhöhung 1978 wurde auf 1979 verschoben und das Jahr 1974 mit besonders hohen Einkommenszuwächsen bei der Ermittlung der allgemeinen Renten-Bemessungsgrundlage herausgerechnet. In den Jahren 1979 bis 1981 koppelte man die Rentenentwicklung gänzlich von der Einkommensentwicklung ab. Unter Kanzler Kohl wurde die Rentenerhöhung 1983 um ein halbes Jahr verschoben und die allgemeine Bemessungsgrundlage eingefroren. Rentner wurden beitragspflichtig in der Krankenversicherung. 1984 folgte mit der "Vollaktualisierung" eine erneute niedrigere Rentenanpassung. 1992 folgte die von allen großen Parteien gemeinsam beschlossene Rentenreform. Die Renten orientieren sich seitdem nicht mehr an der Entwicklung der Brutto-, sondern der Nettoeinkommen. Rentenexperten kritisierten, daß nun steigende Rentenversicherungsbeiträge über sinkende Nettoeinkommen auch zu niedrigeren Renten führen. Umgekehrt müßten bei sinkenden Versicherungsbeiträgen die Renten steigen.

Einer grundlegenden Reform der Rentenversicherung gingen alle Bundesregierungen aus dem Weg. Lieber höhlte man sukzessive die Leistungen aus. In der Reform von 1992 hieß es noch, das Standardrentenniveau von 70 Prozent sollte nie mehr unterschritten werden. 1996 wurde das Rentenalter erhöht. Gleichzeitig stiegen die Beiträge in der Rentenversicherung von 14,0 Prozent 1960 auf aktuell 20,3 Prozent. Jeder Beitragszahler unter 47 Jahren erhält weniger aus der Rentenkasse zurück, als er in seinem Erwerbsleben einzahlt. Je jünger die Beitragszahler sind und je besser sie verdienen, um so größer ist der ihnen durch die Rentenversicherung zugefügte Schaden. Durch das Deklarieren von Selbständigen zu abhängigen Beschäftigten wird das Akzeptanzproblem der Rentenversicherung nicht gelöst werden. Die Menschen werden sich durch noch stärkere Flucht in die Schattenwirtschaft zu entziehen suchen. Deutschland bedarf einer echten Reform seines Sozialversicherungssystems und keiner Scheinselbständigen-Debatte.


 
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